16.1 Setzungen, Gedanken
- Die (absolute) Wahrheit ist das Unbegrenzte, Strukturlose, ist das Nichts. Die (soziale) Wahrheit ist ein Konsens. Die (subjektive) Wahrheit ist das Begrenzte, die innere Struktur unserer widerspruchsfreien Orientierung. Sie ist das Paradox~ mit dem wir leben müssen.
Alle Überlegungen im Rahmen der Wahrheit versuchen in einem Vorgriff eine Bewegung geistig zu determinieren. Die Grenzen des Menschen bringen ihn dabei in einen ständigen Konflikt und machen ihn zu einer tragischen Größe.
- Die „absolute“ Wahrheit beinhaltet die völlige Identität mit dem Sein. Sie verkörpert das „Gesetz“. Sie repräsentiert „Gott“. Ihr Inhalt ist die „Bewegung“ des Universums. Da es dem Menschen nicht gegeben ist, sie in ihrer Totalität zu erfahren, wird seine „Annäherung“ immer nur relativ, eine konkretisierte Form seiner Grenzen sein. Als äußerste „Bewusstheit“ ist sie die Summe der vorhandenen individuellen Wahrheiten, die „globale Kultur“ und als solche real nicht fassbar. Wer mit Hilfe rationaler Strukturen sie erfahren will, d.h. eine Auskunft über das eigentliche Sein des Seienden sucht, befindet sich bereits in einer „Welt“ und glaubt bereits an seine eigenen Setzungen , die Strukturen seiner Logik. Er kann nur noch seine eigenen Grenzen erfahren.
- Die „soziale“ Wahrheit ist eine Orientierungssetzung, die, verinnerlicht, nicht mehr in Frage gestellt wird. Sie ist der Ausdruck eines Standortes, einer Kultur. Sie ist letztlich das Ergebnis eines „logischen Systems“, dessen Gültigkeit sich aus einem Normenkatalog ergibt. Die Frage nach dessen Allgemeingültigkeit, ist die Frage nach seiner Verbindlichkeit, dem gedachten übergeordneten Bestehen eines Metakonsenses.
„Wahr“ ist ein „Urteil“, abgeleitet aus einem dazu gehörenden Struktursystem. Es ist der Ausdruck einer sozialen Leistung. Alle Aussagen können nur im Rahmen bestimmter Vorgaben wahr oder falsch sein. Diese Vorgaben sind im Menschen im Rahmen eines physischen Spielraumes phyllogenetisch determiniert und sozial ausgestaltet. Ohne solche inhaltlichen, d.h. wertbelasteten Kriterien ist eine nicht abstrakte Wahrheit unüberprüfbar.
- Das Wahrheitsverständnis einer Kultur findet seine Grenzen in der Sprache.
Außerhalb einer solchen Struktur ist es für eine gegebene Gesellschaft nicht fassbar. Als sozialer Entwurf dient es der Orientierungsentlastung. Es ist der zentrale Inhalt eines Weltbildes, einer Ideologie. Nur Narren und Mächtige können in einem bestimmten sozialen Umfeld eine vom Konsens abweichende Wahrheit leben.
- Die Frage nach der Wahrheit ist für jedes Subjekt der radikalste Existenzansatz. Sie ist die Frage nach dem „Sein“ des persönlichen Standortes. Aus ihr ergeben sich alle Überlegungen nach den Möglichkeiten des Erkennens.
Die „subjektive“ Wahrheit ist ein psychisches Ergebnis, der Abschluss eines Fragens, die verinnerlichte Auswahl von Fakten im Rahmen eines Selbstwertgefühles. Sie ist die subjektive Ganzheit einer idealen Orientierung, die das Individuum als Gewissen erfährt. Gleichzeitig schafft sie in ihm eine Antikompensationsbereitschaft und ist damit eine Grundlage seiner inneren Konflikte, seiner Reifung.
(Ein Paradox ist, dass wer sich selbst liebt, nie die (soziale) Wahrheit über sich erfahren wird, da seine inneren Kompensationszwänge dies nicht zulassen werden. Er wird sich immer in einer inneren Konfliktsituation befinden, da sein Selbstwertgefühl primär sozial determiniert und sozial stabilisiert wird).
- Die zentrale Frage der Philosophie ist die Frage nach der Gewissheit. Sie ist die Triebkraft, die dem Menschen die Angst zu nehmen verspricht und ihm im Idealfall Geborgenheit zu geben vermag. Sie ist die Frage nach dem Gehalt einer Aussage in Hinblick auf ihre Identität mit einem Objekt, dem Gegenstand einer Beziehung. In unserem Verständnis ist es die Frage nach dem Sein-an-sich, zu der alle anderen Wahrheitsfragen in Beziehung stehen. Die Gewissheit bedeutet das Verlangen nach einer sicheren Orientierung. Sie ist auf einen anderen Standort nicht übertragbar (und von ihm aus auch nicht überprüfbar).
- Eine „Gewissheit“ bedeutet, dass ein Orientierungssystem in sich geschlossen ist. Die geistig „verarbeitete“ Welt im Kopf eines Menschen ist seine „Welt“. Wie Daten ausgewählt und zusammengebracht werden, ist letztlich gleichgültig. Es muss nur im Rahmen eines verinnerlichten Normensystems, nicht mehr hinterfragter Setzungen erfolgt sein. Es ist nur wichtig, dass man an sie glaubt. Die Gewissheit ist letztlich ein nicht mehr hinterfragter Glaube.
- Das Ringen um Objektivität verspricht ein Ringen um die „Wahrheit“, die Übereinstimmung sozialer Strukturvorgaben mit einem Gegenstand. Dabei ist es zunächst das Ringen um die Übereinstimmung mit einem Konsens. Nur in diesem Sinne kann sie Wahrheit repräsentieren. „Wahr“ ist hier eine Urteilsqualität, die auf den Schluss logischer Wissenschaftsnormen zielt, einen kulturbeladenen Sachverhalt. Kriterien sind u.a. die Nachvollziehbarkeit und Widerspruchsfreiheit bei gleichem sozialen Normenverständnis, d.h. im Rahmen von geschlossenen Paradigmagruppen, unseren Wissenschaftsschulen.
- Die westliche Welt verwechselt die Schlüssigkeit rationaler Struktursysteme oft mit (einer Annäherung an eine absolute) „Wahrheit“. Sie ist sich selten dessen bewusst, dass deren Fundamente auf irrealen Setzungen beruhen, d.h., dass ihre Wahrheit nur das Ergebnis ihrer verinnerlichten Vorgaben ist, in deren Enge sie lebt und über deren Rand sie nicht zu blicken vermag. In dem Augenblick in dem ein Bewusstsein zu arbeiten beginnt, besitzt es bereits ein fertiges Bild von der Welt, das sich durch neue Informationen nur gemäss seiner „Bestimmung“ weiter „bewegt“.
- Jede Wahrheit ruht letztlich allein in einem „Ich“, in einem Standort, den ein Subjekt physisch, biologisch und sozial einnimmt. D.h., in jedem Individuum verkörpert sich eine bestimmte, seine Wahrheit. D.h., dass jede Aussage eines Subjektes nur aus der Position eines spezifischen Standortes heraus zu verstehen ist, da der Blickwinkel zum Objekt einer Aussage immer ein anderer ist.
- Die Wahrheit ist einerseits das Ergebnis der „intellektuellen Krankheit“ des Menschen, die ihn zur Abstraktion „verpflichtet“, ihn von einem unbelasteten Sein in der Natur entfremdet, ihn zweifeln lässt, die aber andererseits die Grundlage jeder Kultur, jeder verbindlichen Orientierung ist und bezogen auf das Soziale, erst den Entwurf für eine „positive“ Existenz ermöglicht.