Spiritualität – Transzendenz – Gott

Spiritualität – Transzendenz – Gott

Jeder Mensch braucht geistige Orientierungsobjekte. Letztlich ist es gleichgültig, an welchen Inhalten er seine Gedanken festmacht. Die frühen Menschen orientierten sich zunächst an den Gegenständen ihrer unmittelbaren Umgebung. Mit dem Zusammentragen, Sammeln und Abstrahieren ihrer Erfahrungen entstand in ihren Gemeinschaften zunehmend ein geistiger Kern, der keinen unmittelbaren Orientierungsbezug zu ihrer Umgebung hatte und der in ihren Kulturen gelebt und ihren Gemeinschaften ritualisierend gefestigt wurde. Der moderne Mensch war dann geistig zunehmend auf deren Übernahme angewiesen. Sein Gehirn benötigte sie für seine ununterbrochene Tätigkeit als Orientierung gebende Festpunkte. Sehr deutlich wird dies bei den Objekten der Kunst. Letztlich ist es völlig egal, an welchen Gegenständen wir hier unsere Aufmerksamkeit und Verehrung hängen. Wichtig ist nur, dass es sie für uns als inhaltliche Setzungen gibt. Wenn z.B. ein Museum ein wertvolles Gemälde aus Sicherheitsgründen für das Publikum durch eine gelungene Kopie ersetzt, wird diese von Millionen Menschen genauso bestaunt, evtl. sogar angebetet, wie das Original. Man beschäftigt sich mit ihr geistig, schreibt evtl. kluge Kommentare über sie und ordnet sie seinem geistigen, verinnerlichten psychischen Besitz zu. Warum auch nicht? Für den Betrachter hat die Kopie letztlich den gleichen Wert wie das Original. Ähnlich ergeht es uns allerdings auch mit unseren Orientierungssetzungen, zumal wenn sie in unseren Kulturen oder Zivilisationen erfolgreich sind. Zu ihnen gehören z.B. auch unsere Gottesvorstellungen.

Innerhalb unserer Kultur ist „Gott“ einfach der Name für den unbekannten Anfang vor allem Sein, und es sind individuelle oder soziale Bilder, wie wir von ihm eine Vorstellung zu gewinnen versuchen. „Gott“ kann danach sein:

  • der Voraussetzungslose, der nicht Definierbare,
  • das absolute Geheimnis,
  • ein Symbol für etwas emotional tief Bewegendes, das rational nicht begründet werden kann, für etwas Heiliges (nach Tillich),
  • der Urstoff (Energie ?, Materie ?, das Gesetz ?); der das Universum zusammenhält.

Erst durch die Suche nach einem letzthöchsten Daseinsinhalt schaffen wir uns als Setzung einen Gott, den wir dann, abhängig von unseren Bedürfnissen, mit den verschiedensten Attributen versehen, bzw. schmücken. Er ist ein Ergebnis unserer anthropogenen Setzungen und damit auch ein Spiegelbild unserer Grenzen. Wir können ihm alles zuschreiben und über ihn bestimmte Botenstoffabläufe wecken. Sozial verfestigen sich diese dann in Ritualen und werden zu Traditionen. So wird Gott zu einem transzendenten Inhalt unserer inneren Sehnsüchte (so z.B. im Existentialismus), und wir versuchen ihn im „Urschönen“, Schönen zu finden. Atheisten ersetzen Gott durch einen Götzen, „den Fortschritt, die Vernunft, die Revolution, den Markt, den Planeten – oder eine unchristliche Spiritualität“ (Fabrice Hadjadj).

Wahrscheinlich gehört die Spiritualität, der Glaube an die Erfahrungswelt übersteigende Kräfte, zu den Grundkonstanten der menschlichen Orientierung. Mit den Setzungen, die man ihnen zusprach, konnte man seine Welt ordnen, erhielten die Gemeinschaften einen Inhalt für ihren Zusammenhalt und die einzelnen Personen die Werte für ihre Orientierungen. Zu Systemen ausgebaut, wurden sie zu Religionen, mit Ritualen angereichert zu Kulturen. Als soziale Handlungssysteme bestimmten sie das Leben der Menschen. Das Erleben von Transzendenz legte das Vorhandensein nichtpersonaler Kräfte nahe und die Frage, wo diese nach dem Tode bleiben. Man glaubt, dass die Neandertaler schon vor 60.000 Jahren ihren Angehörigen Blumen mit ins Grab gelegt haben (Höhle von Shanidar). Vor 30.000 Jahren schuf man bereits Tierbilder in Südeuropa und Figuren im Lonetal wahrscheinlich für kultische Zeremonien. Noch für transzendentale Orientierungen offen, sahen die Menschen ihre gesamte Umwelt als belebt und als Teil von höheren Kräften. Damit waren die Voraussetzungen für einen Glauben an ein „Jenseits“ gegeben und mit diesem die Notwendigkeit, Verstorbenen auf ihrem Weg in diese Welt beizustehen.

Die Spiritualität verweist uns auf das Transzendente, das außerhalb unserer Erfahrungswelt Liegende. Der Einzelne erkennt dabei, dass es außer der ihn umgebenden Realität noch etwas Unerkennbares gibt. Sie ist also zunächst ein psychisches Phänomen, das besonders in der Philosophie des Existentialismus zu einem ihrer zentralen Inhalte geworden war. Für

  • Heidegger verbarg sich hier hinter der Ureigentlichkeit des Daseins die eigentliche Existenz, in die wir geworfen wurden.
  • Sartre ist sie die Fähigkeit des Menschen, den Gegenständen seiner Betrachtung eine Bedeutung zuzusprechen.
  • Jaspers ermöglicht sie über drei Stufen des Transzendierens zu einer Selbstheit, einer eigenen inneren Freiheit zu gelangen.

Unsere Spiritualität schafft in uns Bedürfnisse auf Antworten. Sie ist eine psychische Grundbefindlichkeit. Und die Antworten auf ihre Fragen (Bedürfnisse) können emotionale Abhängigkeiten schaffen. Zunächst ist es ein Empfinden des Ichs in einer uns umgebenden Gesamtheit, eine Gesamtsumme unserer Botenstoffe in einem bestimmten Augenblick und deren Einwirkungen auf unser Gehirn. Sie ist ein Erleben, das in einem zweiten Schritt Fragen aufwirft, auf die wir wegen unserer Grenzen mit unseren persönlichen oder sozial übernommenen Setzungen antworten. Diese Setzungen können dann in uns über ihre Rückwirkungen, selber in uns unseren Botenstoffhaushalt beeinflussen und so nicht nur unser weiteres Verhalten, sondern auch Aspekte unserer weiteren psychischen und physischen Gesundheit beeinflussen. Vielleicht hat hier die heilende Wirkung von Placebos auch ihre Ursache.

Wir wissen, dass spirituelle Neigungen über eine Vielzahl von Genen vererbt werden. Kulturelle Orientierungsangebote schaffen dann die Transmitterbahnen, die den religiösen Lebensäußerungen ihre persönliche und danach auch ihre soziale Stabilität geben. Spirituelle Erfahrungen können mit Hilfe halluzinogener Drogen, magnetischer Felder oder Elektroden im Gehirn erreicht werden. Es gibt für sie inzwischen bekannte Vorgehensweisen:

  1. Über ein Ritual den Zustrom von Nervenimpulsen zum Hippocampus zu hemmen(Erleben einer inneren Ruhe und leichter Einheitsgefühle).
  2. Befreiung des Geistes von allen Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen über einen Willensakt (z.B. Meditation).
    (Das Aufmerksamkeitsfeld im Stirnhirn wirkt dann über den Thalamus auf den Hippocampus, der dann wiederum den Zustrom neuronaler Reize in andere Hirnregionen dämpft (bis hin zum Erleben einer Unendlichkeit, einer zeitlosen Leere).
  3. Ähnliche Prozesse kann man auch über starke Konzentrationen erreichen (z.B. ein Gebet).

Spirituelle Erfahrungen haben einen neurologischen Hintergrund. Noch kennt man nicht alle Areale, die an mystischen Erlebnissen beteiligt sind. So kann man mit Hilfe spiritueller Hilfsmittel auch Krankheiten heilen. In der Vergangenheit erfolgte dies oft durch gemeinsame Gebete, ein Handauflegen oder durch Opfer. Wissenschaftlich wurde dies dann später als wirkungslos hingestellt und belächelt, doch weiß man inzwischen, dass auch ein Glaube Körperkräfte aktivieren kann, die zu einer Heilung führen können (Placebowirkung). Durch ein Handauflegen können dann Reaktionen ausgelöst werden, die Schmerzen lindern, den Blutdruck regulieren und das Immunsystem stärken. Spirituelle Erfahrungen sind die Ergebnisse bestimmter Hirnzustände (als solche auch nachgewiesen bei Epileptikern, Hirnerkrankten im Schläfenlappen).

Eine Spiritualität ist etwas nur persönlich Erlebbares (während ein Glaube auf bereits persönlichen oder kulturellen Setzungen baut). Letztlich steht auch hinter ihr ein Wunsch nach Sicherheit. Sie ist ein Einssein mit seinem jeweiligen Sein, mit dem einen umgebenden Milieu, mit einer umgebenden Natur oder einer weiten Ferne, bis hin zu der Weite des vor  einem sich öffnenden Sternenhimmels. Sie ist ein Erleben in einer dem Alltag fremden Tiefe, ein sich erden, ein zu sich finden, ein sich befreien, – eine persönliche Verbundenheit mit dem eigenen Selbst, mit der Mitwelt, mit dem Alleinen (Gott). Sie bietet uns im gegebenen Sein Geborgenheit, indem sie uns lehrt, hinter dem Sichtbaren eine übergeordnete Wirklichkeit zu sehen. Letztlich ist sie ein Empfinden, das auf einer transzendenten (nicht beweisbaren) Ganzheitlichkeit beruht. Unser Problem dabei ist, da wir uns in unserer Kultur nicht mit dem Spirituellen in einer gewissen Selbstverständlichkeit (Naturnähe) umgeben können, ein Verbleiben in einer Welt abstrakter Erklärungen für das Übersinnliche oder Glaubenssetzungen, die mehrere Jahrtausende alt sind.

In unserer Gesellschaft besteht ein starkes spirituelles Bedürfnis, was für deren tiefen biologischen Hintergrund spricht. Die große Gefahr ist, da sie in ihrer Anlage zutiefst persönlich ist, dass es von anderen Menschen oder sozialen Gruppen über deren Orientierungsvorstellungen, bzw. Interessenhintergründe missbraucht werden kann. Eine Spiritualität kann man nur subjektiv erleben. Da sie immer eine persönliche Gesamtwahrnehmung als Hintergrund hat, ist sie objektiv rational über ein kausales Denksystem nicht vermittelbar. Sie besitzt für einen Dialog keine messbaren Größen. Unser spiritueller Teil zwingt uns, Suchende zu sein, und wenn wir sie nicht verdrängen, es auch zu bleiben. Sie ist

  • eine Konzentration auf eine letzte, nichtpersonale Wahrheit,
  • eine Orientierung auf etwas Erahnbares, sinnlich aber nicht Erfassbares,
  • eine intuitive Einordnung in etwas Unerklärbares, Großes,
  • eine Form der Erkenntnis des Geistigen als Realität (wobei dieses letztlich wegen seines nebulösen, persönlichen Empfindungscharakters eine anthropogene Erklärungssetzung bleibt),
  • für den spirituell Empfindenden eine Form der suchenden Ansprache auf seiner Suche nach dem existentiellen Sinn seines Daseins.

Entsprechende transzendentale Erfahrungen lassen sich machen

  • persönliche über Formen der Meditation,
  • einem sich Öffnen gegenüber der Natur,
  • dem Dabeisein in der Ritualwelt verschiedener Religionen (z.B. im möglichen Erleben ihrer Gemeinschaften).

Heute ist die Spiritualität ein Identitätsmerkmal und Abgrenzungskriterium zwischen dem östlichen und westlichen Kulturkreis geworden. Während der östliche verstärkt spiritualistisch ausgerichtet ist, ist es der westliche eher materialistisch, konsumorientiert. Die verschiedenen Religionen haben eine Vielzahl spiritueller Strömungen hervorgebracht, deren tragende Gestalten oft dort wirkende einzelne charismatische Figuren waren. Stark vereinfachend kann man sagen, dass

  • der Hinduismus über seine Rituale eine individuelle Befreiung der Gläubigen anstrebt,
  • der Buddhismus über seine Meditationsformen Wege zu einer persönlichen Erleuchtung sucht,
  • das Christentum eine Vervollkommnung der Menschen im christlichen Sinne zu finden sucht
  • der Islam eine geistige Brücke zwischen Gott und dem Menschen zu schaffen sucht.

Glaubensgemeinschaften sind oft gekennzeichnet von einer leidenschaftlichen Hingabe. Von ihren Vertretern, Gläubigen werden ihre Ideologien, Setzungen mit Wahrheiten gleichgesetzt, denen sie oft bereit sind, ohne Rücksicht auf deren Konsequenzen, blind zu folgen. Deren Inhalte bilden in ihren Gehirnen eingefahrene Netzwerke, die sie zu einem bestimmenden Teil ihrer jeweiligen Persönlichkeit machen. So absurd manchmal ihre Inhalte sind, für die jeweils Gläubigen sind sie unumstößlich. So ist Jesus zum Beispiel für sie in jedem Fall das Ergebnis einer Jungfrauengeburt (und da Joseph nicht der Vater sein soll, nicht nur ein uneheliches Kind der Maria). Man muss es halt glauben und unzählige Menschen tun dies auch und glauben an eine persönliche Vaterschaft Gottes. Das hier der Glaube aus einer Summe von Setzungen besteht, wird dabei rational nicht mehr hinterfragt. So wie er sich hier darbietet, erzeugt er  bei den Gläubigen eine innere Sicherheit, indem er auf einem Vertrauen gegenüber überlieferten Inhalten baut, auf einem Vertrauen gegenüber den sie vertretenden Gemeinschaften, in die man sich geborgen einordnen kann.

  • Ein Glaube ist ein tief in einem verinnerlichtes Orientierungskonzept, das alle unsere Daseinsäußerungen beherrschen kann. Seine Inhalte bilden die Verhaltensmitte der jeweiligen Personen, die zentrale Mitte ihres Ichs und damit ihres Universums.
  • Ein Glaube bestimmt den Sinn unseres Lebens. Früher war er vorrangig religiöser Art, heute kann für ihn jede Ideologie stehen, bzw. in unserer individualisierten Welt ein persönlich geschaffenes Facettenbild aus ihnen.
  • Er beherrscht unseren Stoffwechsel, die Interpretation unserer Erfahrungen, das Erleben unserer Gemeinschaften und die Werte, die wir uns selbst zuschreiben.
  • Über seine Stärken scheint er alles ermöglichen zu können und im Kollektiv nicht nur Gemeinschaften zusammen zu halten, sondern ganze Kulturen zu schaffen.
  • Für die Gläubigen bedeutet Leben Glauben und die mit ihm verbundenen Rituale dessen Bekräftigung. Über die Zeit gepflegt, entwickeln sich aus ihnen Traditionen, die dann zu zentralen Ausdrucksformen unserer Kulturen werden.
  • Über die Sinne „begreifen“ die Gläubigen die Welt und finden für deren Phänomene ihre Erklärungen. Ihr heutiges Problem ist, dass unsere westlichen Kulturen vorrangig rational kausalen Logiksystemen folgen und die sinnenbezogene komplexe Ganzheit unserer Umwelt dabei weitgehend ausklammern.
  • Ein Glaube kann über seine transzendenten Möglichkeiten die einzelne Person auf eine andere Orientierungsebene heben und damit für diese und nur für diese inhaltlich einen Bezug zu etwas Unendlichem, zu einer Ewigkeit schaffen.
  • Damit kann ein Glaube für eine enge Welt, aber auch für die geistige Weite eines Daseins stehen. In unserer Kultur kann er zu unserer herrschenden rationalen Wissenswelt eine Bereicherung für das Erleben unserer uns umgebenden Welt darstellen.

Ein Glaube ist immer Sprache, ist immer eine verinnerlichte Setzung. Oft historisch, da vor Jahrhunderten geschaffen und im Laufe der Zeit durch Mythen angereichert. Oft aber auch als Machtinstrument aktuell, Personen oder Gemeinschaften über Machtpositionen Status verleihend. Ein Glaube an höhere Mächte besitzt Entlastungsfunktionen. Negatives wird zu Strafen Gottes erklärt. Viele unserer Glaubensinhalte sind Antworten auf fundamentale Ängste in uns (z.B. die Verletzung der eingefahrenen Transmitterwege in uns, der Tod). Andererseits kann der Glaube Menschen ein Gefühl von Heimat vermitteln.

Wir wissen nicht, wie der Anfang von Allem war und setzen deshalb dafür Bilder, die unseren aktuellen Vorstellungsbildern entsprechen. Für uns ist dies der Übergang aus einem Nichts in unser Sein. Und es wird zu unserer Aufgabe, in diesem Sein unseren Weg zu finden, der zugleich für uns als Subjekte den Sinn unseres Seins darstellt.

Der Glaube, dass zwischen den kosmischen Erscheinungen und dem Schicksal einzelner Menschen Beziehungen bestehen, ist uralt und sehr häufig (in Deutschland zurzeit 40 % der Bevölkerung, hauptsächlich Frauen). Dass die Sterne einen Einfluss auf die Erde haben, beobachteten schon die frühen Menschen. Schon die Babylonier, Sumerer und die alten Ägypter beobachteten für ihre alltägliche Orientierung die Sonne, den Mond und die Sterne. Früh übertrugen sie dann auch ihre Entscheidungen in Form von Horoskopen auf den persönlichen Bereich. Die Astronomie verwandelte sich zur Astrologie, und ihren Aussagen folgten Könige und Fürsten. Später wurde sie zu einer verbreiteten Gegenbewegung gegen die allgemeine Verwissenschaftlichung unserer Gesellschaft (so hat es allein in Berlin um 1900 mehr als 300 berufliche Astrologen gegeben). Noch heute gehören Zeitungshoroskope zu unserem Alltag. Wissenschaftliche Beweise für ihre Stimmigkeit gibt es nicht. Für ihre Bedeutung spricht allein die Sehnsucht vieler Menschen, für ihr Leben einen höheren Sinn zu finden. Außerdem kann die Astrologie einen gewissen Unterhaltungswert besitzen.

Unsere Religionen sind die Ergebnisse unserer Befähigung zur Spiritualität. Seit unserer Sesshaftwerdung haben wir sie zunehmend zu Systemen unseres Zusammenlebens, Wirtschaftens und Herrschens geformt und sie damit rational ihres transzendenten Hintergrunds beraubt. Vielleicht ist unser einziger Weg aus diesem Dilemma herauszukommen, eine Rückbesinnung auf diese unsere alte Befähigung und damit ihre Pflege, d.h. das Dasein in seiner komplexen Existenz zu sehen und die eigene Person nur als ein Teil in ihr.

Religionen beginnen dort, wo bei den menschlichen Orientierungsbedürfnissen die anthropogenen Erkenntnisgrenzen überschritten werden. Ihre Hintergründe sind Ängste, Ohnmachts- und Dankbarkeitsgefühle. In den frühen Gesellschaften beseelte man zunächst vorwiegend Naturerscheinungen und sprach ihnen überweltliche Kräfte zu. Man geht davon aus, dass die ersten religiösen Handlungen bewusst vor 40.000 – 50.000 Jahren vollzogen wurden mit der Entwicklung der Befähigung zur Abstraktion und der Weiterentwicklung des menschlichen Denkens von ihrer unmittelbaren primitiven Lebenspraxis. Man wurde zunehmend seiner Abhängigkeit von den Naturkräften bewusst und unterstellte ihnen menschliche Motive, auf die man dann mit Ansprachen, Geschenken und Opfern zu reagieren versuchte, um sie dadurch für seine Belange günstig zu stimmen. In einem weiteren Schritt trennte man die Naturkräfte von den natürlichen Gegenständen seiner Umgebung und machte aus ihnen abstrakte Geister, denen man übernatürliche Kräfte zusprach. In einem dritten Schritt sprach man ihnen, parallel zum Wachsen der menschlichen Gesellschaften, Hierarchien zu (u.a. Zeus, Thor), die sich dann im Monotheismus zu einem einzigen, immateriellen Gott vereinigten. Zunächst wurden die mit den Religionen verbundenen Riten von den Ältesten der jeweiligen Sippen ausgeführt, dann von den Stammeshäuptlingen und am Ende dieser Entwicklung von einer besonderen Priesterschicht, die sich immer mehr Statusinhalte und Macht zulegte. Nach dem Gang Kaiser Heinrich IV. nach Canossa siegte dann in Europa die Kirche über die politische Führung.

Religionen

  • bildeten die Voraussetzungen für den Aufstieg der menschlichen Zivilisationen.
  • sind Identitätszentren.
  • schaffen Gemeinschaften, trennen aber auch. Ihr zentraler Inhalt sind oft ihre Mythen, ihre „Werte“, die dann in ihren sozialen Strukturen, ihren Traditionen zum Ausdruck kommen.
  • bringen Menschen in Verbindung zu einer höheren Macht, von der ihre Existenz abhängig ist.
  • geben den Menschen einen inneren Halt.
  • bieten Orientierungssicherheiten, schaffen psychische Verhaltenssicherheiten, geben Antworten auf unsere Endlichkeit, d.h. unsere Sterblichkeit.
  • befriedigen psychische Grundbedürfnisse (z.B. Nähe und Zugehörigkeit),
  • schaffen Beziehungen zu Natur, Umwelt, Gemeinschaften, Orientierungssetzungen.
  • versuchen das Diesseits in einem Jenseits mit Hilfe von Regeln und Bildern zu institutionalisieren.
  • stellen Glaubensinhalte auf der Suche nach einer höheren Wahrheit dar.
  • geben dem Leben des Einzelnen Struktur, einen inneren Halt.
  • schaffen Gefühle der Verbundenheit.
  • erlauben den Gemeinschaften, ihre Anhänger zu kontrollieren.
  • ermöglichen, Andersdenkende zu unterdrücken.
  • haben, wie alle Ideologien, eine dreifache Bedeutung:
    • dem Einzelnen bieten sie ein Programm, an dem er sich orientieren kann,
    • den Gemeinschaften einen zentralen Inhalt für ihren Zusammenhalt,
    • den Statusorientierten, seien es Personen, Kollektive oder Hegemonialinteressierte die entscheidenden Fundamente für die Ausübung ihrer Machtinteressen.
  • Sie erlauben uns, etwas zu suchen, was wir im Alltag nicht zu finden glauben.
  • Sie bilden einen Schlüssel, die Welt zu sehen.
  • Sie stellen Aussichten für die Einhaltung von Geboten (erst Ihre Kontrolle erlaubt ein Sozialleben).
  • Über sie erhalten Zivilisationen ihre Stabilität. Erst durch sie (oder eine andere Ideologie) erhalten größere Menschengruppen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl.
  • Geistig stellen sie in sich geschlossene Orientierungssysteme dar. Wer gegen diese aufbegehrt oder sie kritisiert, wird extrem hart sanktioniert. So ließ die katholische Kirche einst Giordano Bruno verbrennen, weil er nur behauptet hatte, dass die Erde ein Stern unter vielen sei.
  • Trotz allem, über ihren Bezug zur Spiritualität stellen sie Hilfen für die Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens dar.

Religionen halfen einst den Menschen, die Natur zu erklären und deren Rhythmus zu folgen. Mit ihrer Sesshaftwerdung vor etwa 10.000 Jahren wurden sie auch zum Bindeglied der jeweils entstehenden Gemeinschaften. Rituale festigten sie und statusbewusste Personen banden sie in die Ausdrucksformen ihrer Macht ein. Grob unterscheidet man:

  • Polytheismus: Besonders die bekannten frühen Religionen in Ägypten, Babylonien, Griechenland, im Römisches Reich, in Germanien, in Mittelamerika: Azteken, Maya, Inka,
  • Monotheismus: Ägypten (Echnaton), Persien (Zarathustra), Judentum, Christentum, Islam,
  • Ahnenkulte: Zentral- und Südafrika,
  • Natur- und Geisterglaube: Australien (Aborigines),
  • Schamanismus: Sibirien, Zentralasien, Nordkanada, Grönland,
  • Hinduismus: Indien, heute auch in Myanmar, Kambodscha, Laos, Thailand (geboren, um wiedergeboren zu werden),
  • Buddhismus: früher Indien, Einfluss in China, Tibet, Japan (Lehre vom Pfad der „Erleuchtung“),
  • Daoismus: Chinesische Volksreligion (alle Wesen und Dinge folgen dem Gesetz des Dao).

Der Vorteil aller Religionen ist der Umstand, dass sie ihren Anhängern in der Regel für ihr Leben ein Orientierungsprogramm bieten, während die Atheisten und die Agnostiker sich selber einen Sinn suchen müssen. Problematisch wird es, wenn sie den Glauben nicht rational durch irgendeine Ideologie ersetzen, seien es die der Nation, der Inhalte aus den Wissenschaften oder anderen Behauptungen (z.B. Rasse oder Klasse).

Früher lieferten die Religionen die Erklärungen für die großen Fragen der Menschheit, für unser Verständnis der Welt.

Heute glauben wir, dass die Computer unsere gesamte Informationswelt verändern werden, so dass es in Zukunft weniger Vorurteile, Streitereien und weniger Korruption geben wird. Die Demokratien werden vielleicht gefestigter und die benötigte Energie wird umweltfreundlicher sein. In unserer technischen Zukunft stehen wir (sehr wahrscheinlich) vor einer neuen globalen Welt.

Der heutige Mensch verlagert zunehmend seine alltäglichen Lebensbereiche ins Netz und damit steuern dessen Algorithmen zunehmend sein Leben. Er baut sich seine Glaubens-,    Orientierungswelt zunehmend selber zusammen (christliche Vorstellungen vereinen sich darin mit kultischen Praktiken anderer Religionen). Damit erleben auch die bisher bestimmenden Religionen bei uns eine zunehmende Individualisierung.

Wissenschaftlich ist es ein Definitionsproblem: Man weiß nicht, wodurch sich eine Religion kennzeichnet.  Inhaltlich unterscheidet man zwei Gruppen, eine die sich auf inhaltliche Merkmale bezieht (z.B. das Transzendente, Allumfassende), während die andere von deren Funktionen für das Individuum oder die Gesellschaft ausgeht (z.B. heiligen Handlungen und Praktiken). Wegen dieser Schwierigkeiten weicht man heute oft auf kulturwissenschaftliche Definitionen aus, z.B. auf ein geschichtliches Kriterium in einer Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften oder einer Ideologie.

Der Glaube an eine Welt der Götter hat sich parallel zur Geschichte der Menschheit entwickelt:

  • Die älteste bestehende Religion ist die der Aborigines in Australien. Seit 40.000 Jahren glauben sie an die Zeichen der Natur, die in der „Traumzeit“ zum Ausdruck kommen und den Menschen eine Orientierung ermöglichen.
  • Seit 28.000 Jahren kennen wir Grabbeigaben für Verstorbene. Aus der Achtung für sie entwickelten sich wahrscheinlich die ersten Ahnenkulte, die dann zu den ersten religiösen Systemen führten.
  • Vor 11.000 Jahren wurden die ersten Menschen sesshaft. Während die religiösen Anfänge wahrscheinlich noch von genetischen Vorgaben gefördert wurden, bestimmten ab jetzt mehr soziale Kriterien die Weiterentwicklung der Religionen, bzw. der Kulturen. Je komplexer die Siedlungen organisiert waren, um so komplexer wurden auch die Orientierungssysteme, die Vorgaben für ihr Zusammenleben, ihre Totenkulte. Die Götter wurden menschenähnlich und übernahmen die Aufgabe, das Sozialverhalten zu kontrollieren. Damals wurde in Anatolien wahrscheinlich auch der älteste Tempel der Menschheit in „Gobekli Tepe“ errichtet. Inzwischen haben sich aus diesen ersten Ansätzen tausende Religionen entwickelt, die alle, jeweils auf ihre Weise, den Menschen die verschiedensten Orientierungsangebote machen.
  • Seit 7.500 v. Chr. sind uns rituelle Beerdigungen bekannt, die bereits auf einen Glauben an ein Jenseits hinweisen. Mit Hilfe von Ritualen versuchte man die „Kraft“ der Toten (ihre „Seele“) zu erhalten.
  • Zwischen 4000 – 2000 v. Chr. entwickelte man zwischen Euphrat und Tigris den Paradiesgedanken, den Gedanken an einen immergrünen Ort (in einer Wüstengegend), mit strömenden reinen Quellen und voller Harmonie zwischen Mensch und Tier.
  • Um 3.300 v. Chr. ist „Uruk“ die erste Großstadt (ca. 25.000 Einwohner). Für ihre Verwaltung wird die erste Schrift entwickelt. Die erste Dichtung entsteht (Gilgamesch-Epos). Die inzwischen völlig unübersichtliche Götterzahl (über 1000) wird auf knapp 30 zusammengestrichen.
  • 500 v. Chr. entstehen die Pyramiden von Gizeh. Sie verweisen auf einen Glauben an ein Leben nach dem Tode.
  • Um 1.500 v. Chr. entstehen in Indien die „Veden“, die ein Prinzip der universellen Ordnung beschreiben (Sie sind der Hintergrund für das dortigen noch heute bestehende starre Kastensystem).
  • Um 1.350 v. Chr. ersetzte Echnaton in Ägypten die bisherige Vielgötterei durch die Verehrung einer einzigen Gottheit, der Sonne. Damit leitet er die Voraussetzungen für den späteren Monotheismus ein, obwohl man unmittelbar nach seinem Tode die Erinnerungen an seine Neuerungen zu löschen versuchte (Echnatons Sonnenhymne ähnelt dem biblischen Psalm 104).
  • Um 1.000 v. Chr. entwickelt Zarathustra (ein altiranischer Priester, dessen Herkunft und Wirkungsstätten unbekannt sind) einen Glauben (Zoroastrismus) als einen ständigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen und an einen einzigen Schöpfergott. Die Grundzüge seiner Lehre waren:
    • Der Mensch ist ein Mensch, weil sein Verhalten nicht von Instinkten bestimmt wird.
      • In seinem Leben muss er zwischen Gut und Böse entscheiden.
      • Überwiegt in seinem Leben das Gute, gelangt er nach seinem Tode ins Paradies. Dafür muss er nach drei Grundsätzen leben: Gute Gedanken, gute Worte, gute Taten.
    • Als frei geborenes Wesen kann er nur durch eine persönliche Einsicht zu Gott gelangen. Über das Judentum, das viele seiner Bilder übernahm (u.a. in Buch Daniel, Buch Henoch), gelangten seine Grundeinstellungen ins Christentum. So u.a. die Bilder vom Ende der Welt, von Himmel und Hölle, der Gestalt des Teufels als Gegenspieler Gottes.
  • Im 6. Jh. V. Chr. kommt in Griechenland die erste Kritik an der bestehenden Götterwelt auf (deren Kanon zuvor Homer und Hesiod geschaffen hatten). Xenophanes von Kolophon: „Nicht die Götter schufen die Menschen, sondern die Menschen die Götter“. In China entsteht der Daoismus. Seine Forderungen sind:
    • Ein Leben in Einklang mit der Natur,
    • ein Dasein frei von übertriebenem Ehrgeiz, Neid und Wut,
    • geistiger statt materieller Reichtum,
    • materielle Bescheidenheit,
    • innere Ausgeglichenheit und Harmonie (u.a. durch Meditation).
  • Um 530 v, Chr. findet Buddha in Indien für den dortigen Wiedergeburtsglauben einen Weg der Erlösung durch „Erleuchtung“. Über eine Selbstvervollkommnung kann man in den glücklichen Zustand  des Nichtseins gelangen, ins Nirwana.
  • Um 30 n. Chr.: Der Tod Jesu. Zunächst ein unbedeutender jüdischer Wanderprediger, dann durch seine Anhänger, trotz verschiedener Verfolgungswellen, zur zentralen Figur des Christentums geworden.
  • 1077 n. Chr.: Kaiser Heinrich IV. wird von den Fürsten gezwungen, sich vor dem Papst in Canossa niederzuwerfen. Damit wird die Kirche in Europa zu einer bestimmenden eigenständigen Macht.
  • 1095: Papst Urban II. ruft zum ersten Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems auf (von insgesamt 7). Damit beginnt ein zwei Jahrhunderte währender Krieg zwischen den Christen und den Muslimen, verbunden mit den brutalsten Plünderungen und Gräueltaten, die man sich denken kann.
  • – 16- Jh.: Es entstehen verschiedene christliche Orden:
    • Templer: Kriegerische Rittergemeinschaft, Elitekämpfer der Kreuzzüge. Wegen ihrem Vermögen wurden ihre Mitglieder vom französischen König umgebracht.
    • Johanniter (Malteser): Betreuten die Krankenhäuser in Jerusalem. Heute im wohltätigen Bereich tätig.
    • Kartäuser: Rückzug aus der Welt (beten, arbeiten, schweigen).
    • Deutscher Orden: Christianisierte Osteuropa.
    • Franziskaner: Verzicht auf Wohlleben.
    • Dominikaner: Predigerorden, zuständig für die Inquisition.
    • Augustiner: Bettelorden, der nach dem Armutsgelübde lebte.
    • Jesuiten („Gesellschaft Jesu“): Hauptwaffe Roms gegen die Reformation.
    • Ursulinen: Frauenorden (Bescheidenheit, Keuschheit, Gehorsam).
  • 1487: Einweihung des aztekischen Haupttempels von Tenochtitlan. Für die Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung mussten die Götter (ca. 200) mit den Herzen von Menschenopfern befriedigt werden. In diesem Fall mit den Herzen vieler tausend Personen (in Viererreihen angetreten, 5 km lang), in denen deren Seele sich befindet. Wahrscheinlich handelte es sich damals dabei um sie größte Zahl menschlicher Opfer aus religiösen Gründen.
  • 1518: Luther wendet sich als Augustinermönch in 95 Thesen in der Sprache des Volkes öffentlich gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche. Er erreicht darüber die großen Massen der Bevölkerung. Seiner Forderung „Bildung für Alle“ hat die Kirche nichts entgegenzusetzen. Damit öffnet er den Weg für eine Demokratisierung des Wissens und den zum mündigen Bürger, der dann in der Folge letztlich zum heutigen Individuenverständnis führte.
  • 1620 geht die „Mayflower“ mit 102 puritanischen Christen vor der nordamerikanischen Küste vor Anker. Zuvor drohte ihnen in England die Todesstrafe, weil sie sich als Gemeinschaft der Auserwählten von der Unmoral, den Ritualen der katholischen Kirche und der Bildersprache ihrer Gotteshäuser befreien wollten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es ihnen, eine erste Siedlung aufzubauen und 50 Jahre mit den Eingeborenen friedlich zu leben. Danach kommt es wegen der Landgier der Siedler zu heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen mindestens 3.000 Indianer sterben (und 600 Kolonisten). Nach mehreren Generationen und einem Auflösen der Gemeinschaften erfahren die vorhergehenden puritanischen Ideen eine Umdeutung zu einem missionarischen Auftrag, einen Kampf gegen das herrschende Böse und eine Hoffnung auf eine Erlösung. Konkretisiert werden sie dann in der Unabhängigkeitserklärung. Nach Chomsky wurden die USA von religiösen Fanatikern gegründet und noch heute seien rund 1/3 der amerikanischen Wähler religiöse Fanatiker. Nach ihm sind die USA ein Ein-Parteienstaat, der von zwei verschiedenen Parteien regiert wird. Seine gesamte intellektuelle Klasse bestehe aus Nationalisten.
  • 1633 muss Galilei seinen astronomischen Erkenntnissen abschwören, da ihm sonst der Verbrennungstod droht (wie zuvor 1600 Giordano Bruno). Mit diesem Schwur trennt sich die katholische Kirche auch von möglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zukunft zugunsten ihrer Dogmen (bisher galten ihre Institutionen als Wissenszentren).
  • Um 1660: Für Spinoza ist die Bibel ein von Menschen geschriebenes Werk. Gott ist für ihn die allumfassende Substanz und der Mensch darin nur eine ihrer Ausdrucksformen.
  • 1789: In der französischen Revolution trieb der Hunger die Menschen zunächst gegen die vollen Speicher des Klosters Saint-Lazare und damit gegen die Kirche und am nächsten Tag dann gegen die Pariser Bastille. Damit begann in Frankreich die Entmachtung der Kirche, die dann dort am Ende zu einer völligen Trennung von Kirche und Staat führte („Laizismus“).
  • 1859 entwickelte Darwin die Evolutionstheorie, nach der sich alle Arten in einem zweistufigen Prozess entwickelt haben:
    • zunächst einer zufälligen Mutation in den Genen,
    • danach einer natürlichen Selektíon, bei der die überlebensfähigeren Arten als neue Spezies überlebten.

Damit wird auch der Mensch zu einer biologischen Art unter vielen. Seine Erkenntnisse werden von christlich-fundamentalen Strömungen und von vielen Muslimen heute noch abgelehnt.

  • 1870: Erklärung des Unfehlbarkeitsdogmas durch Papst Pius IX.

Heute gibt es weltweit unzählige Glaubensgemeinschaften mit oft absonderlichen Inhalten und Riten. So soll es zurzeit allein 30.000 verschiedene christliche Gemeinschaften geben, die alle ihre Anhänger haben. In manchen Religionen gehört die Beschneidung der Knaben und Mädchen zu ihren Ritualen, in manchen christlichen Gruppen die Teufelsaustreibung (in Italien jährlich bis zu 500.000mal). Im „Neuheidentum“ bekennt man sich zu vorchristlichen Riten und Hexenbräuchen. Die Scientology-Anhänger haben derartige totalitäre Strukturen, dass sie sogar vom Verfassungsschutz beobachtet werden (man schätzt ihre Anhängerschaft  auf etwa 100.000 Menschen).

Zurzeit nimmt die Zahl der Atheisten und der Religionslosen weltweit zu. In Schweden beträgt sie bereits 64 % der Bevölkerung, in Deutschland 42 %. Man schätzt ihre Zahl weltweit auf 1 Milliarde Personen. An die Dreieinigkeit Gottes als „Vater, Sohn und Heiliger Geist“ glauben nur noch 12 % der Deutschen. Je höher ihr Bildungsgrad ist, desto stärker wird sie nur noch zu einer abstrakten, kulturellen Vorstellung. Am Ende seines Lebens sagte Kurt Flach (einer der bedeutendsten deutschen Kirchenhistoriker):

  • „Ich bin kein Christ, wenn man unter einem Christen jemanden versteht, der an Gott, an ein Leben nach dem Tod und an die Gottheit Jesu Christi glaubt. Ich bin auch kein Suchender: Ich habe Gott gesucht und nicht gefunden, denn bei genauem Hinsehen bröckelte die barocke Selbstherrlichkeit alter dogmatischer Beweispaläste“ („Der Spiegel“, 43/2013).

Letztendlich ist „Gott“ für alle nur eine Hintergrundinterpretation ihres spirituellen Daseinsbezuges. Man kann sie bei den einzelnen Personen in Frage stellen. Wahrscheinlich ist sie auch nur eine totale Überwältigung unseres gesamten Transmitterkomplexes durch Erscheinungen oder Überwältigungen aus unserer Umwelt. Aber das spirituelle Erleben ist ein fundamentaler Wahrnehmungs- und damit Orientierungsteil unserer selbst und hat damit eigene Antworten auf unsere Fragen nach dem Sinn unseres Daseins. Religionen entwickeln deshalb ihre Lehren über Gott, indem sie dessen Beziehung zum Menschen und zur Umwelt verschieden akzentuieren. Verschiedene Menschen haben dies verschieden auszudrücken versucht:

  • Schleiermacher: Für ihn ist Gott eine objektive Wirklichkeit. Nicht gegenständlich vorgestellt, ist er aus dem Abhängigkeitsgefühl in unserem Dasein gewachsen.
  • Seeberg, R.: Das Apriori Gottes ergibt sich aus einer Uranlage im menschlichen Geist. Seine Realität ist bewusstseinstranszendent.
  • Einstein: „Im unbegreiflichen Weltall offenbart sich eine grenzenlos überlegene Vernunft. Die geistige Vorstellung, ich sei Atheist, beruht auf einem Irrtum“.
  • Hawking, St.: „Wenn sie wollen, können sie sagen, Gott sei die Verkörperung der physikalischen Gesetze“.
  • Drewermann, E.: „Wir erkennen, dass Geist eine Struktureigenschaft aller komplexer Systeme ist. Sinn stellt sich auf dem Weg der Evolution selber her. Gott ist in diesem Sinn etwas, das sich in der Welt und mit der Welt selber entfaltet“.

Wahrscheinlich hat es schon immer Versuche gegeben, die Existenz Gottes zu beweisen. Da früher seine Existenz nicht in Frage gestellt wurde, dienten diese Beweise allein dem Ziel, die bestehenden Überzeugungen rational zu untermauern. Allgemein betrachtet unterscheidet man apriorische Beweise (unabhängig von einer Erfahrung), aposteriorische (sich auf Erfahrungen stützende), in der Nachfolge Kants ontologische, kosmologische und teleologische Gottesbeweise und heute noch moralische:

  • ontologische (Anselm v. Canterbury, 1033 – 1109): Über Gott hinaus kann nichts Vollkommeneres gedacht werden.
  • kosmologische (Thomas von Aquin, 1225 – 1274): Auch das Universum muss außerhalb seiner selbst eine Ursache, einen Schöpfer haben“.
  • teleologische: Da die Natur auf ein Kausalitätsziel zur Vollkommenheit hin angelegt ist, muss es etwas geben, das dieses Ziel vorgibt.
  • moralische Beweis (Kant): Ein Dasein Gottes ist moralisch notwendig, da sich die moralischen Gesetze als Pflichten aus göttlichen Geboten ergeben.

In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hat Kant alle theoretischen Vernunftannahmen Gottes zu widerlegen versucht und dann in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ ein mögliches Gottesbewusstsein ethischen Grundannahmen zugesprochen. Da es in der empirischen Realität keine sittliche Weltordnung gibt, ist metaphysisch gesehen, nur eine allmächtige moralische Instanz denkbar, und die kann man Gott nennen. Heute gehen wir davon aus, dass sich ein Dasein Gottes rational nicht beweisen lässt. Spirituell können wir nur den Hintergrund unserer Transparenzerfahrungen nach ihm benennen.

Wie es immer Versuche gegeben hat, die Existenz Gottes zu beweisen, hat es auch fast immer in der Geschichte die Versuche gegeben, seine Existenz als anthropogene, geistige Projektionen hinzustellen, denen menschliche Denkprädikate zugesprochen wurden. Gott (bzw. die Götter) gilt als der Sinnstifter einer angestrebten Ordnung. Oft erwuchs seine Existenz als Utopie aus den Ängsten der Menschen vor den sie umgebenden Naturerscheinungen. Die Zoroastristen, Juden, Christen und Muslime machten aus ihm einen personalen Schöpfergott, während er für die asiatischen Religionen ein göttliches Prinzip darstellte. Für

  • Hobbes (1588 – 1679) waren die Religionen ein Ergebnis der menschlichen Unkenntnis der Ursachen seines Glücks oder Unglücks.
  • Comte (1798 – 1857) waren sie ein Ergebnis unverstandener Naturkräfte, die zu mythenerzeugenden Phantasien geführt haben.
  • Feuerbach (1804 – 1872) sah in den Religionen Schöpfungen des menschlichen Geistes, psychisch gewachsen aus seinem allgemeinen Abhängigkeitsgefühl. Der Mensch schuf bei ihm Gott nach seinem Bilde. In Gott beten die Menschen ihr eigenes Spiegelbild an.
  • Marx (1818 -1883) waren die Religionen ein Mittel der Unterdrückung in einer Klassengesellschaft, eine Droge, „Opium für das Volk“.
  • Freud (1856 – 1939) waren sie eine psychische Störung, eine Art Zwangsneurose.
  • Hawking: Durch die Naturgesetze wurde die Existenz Gottes verdrängt.
  • Moderne Hirnforscher sehen in den Bemühungen, Gott zu beweisen, nur noch chemische Reaktionen in den Köpfen der Menschen.
  • Nach Dworkin haben Theisten und Atheisten zwei geistige Positionen gemeinsam,
    • das spirituelle Sehen der Schönheit der Natur,
    • die Suche nach einem Sinn für ihr Leben.
      Doch sei dessen einziger Wert, sein Leben nicht zu vergeuden.

Die große Zahl der Kirchenaustritte verweist auf eine tiefe aktuelle Krise der Kirchen in Deutschland. Allein 2021 verließen 359.338 Menschen die katholische Kirche und 280.000 die evangelische. Deutlich wird dies auch in der Zahl der Gottesdienstbesucher. Zwar bemühen sich die Pfarrer, ihren Kirchen ein evangeliumgemäßes Gesicht zu geben, doch erreichen sie darüber immer weniger Menschen. Früher stellte die Kirche in Deutschland die wichtigste integrative Kraft dar, doch inzwischen vertreten die beiden christlichen Kirchen hier nur noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung. Und im Ausland (z.B. die fundamentalistischen Evangelikalen der USA) stellen sie die wichtigsten sozialen Kräfte dar, die über ihren vertretenen Hass gegenüber Andersgläubigen und gegenüber zeitgemäßen modernen Entwicklungen ihre eigentlichen Werte selber pervertieren. Eigentlich sollte eine Kirche eine Einheit im Dialog darstellen. Doch kann sie heute durch den breiten sozialen Individualismushintergrund ihren bisherigen uniformen Charakter nicht mehr aufrecht erhalten. Dies gilt auch für ihre Bindung an ihre vor Jahrtausenden entstandenen Mythen. Wenn sie in der Zukunft noch eine Bedeutung haben will, dann muss sie

  • sich sozial verstärkt für eine größere Gerechtigkeit in der Gesellschaft, innerhalb der Menschheit einsetzen,
  • den Notleidenden zu helfen versuchen,
  • dem Einzelnen beistehen, für sein Leben einen Sinn zu finden.

Nur unter diesen Umständen wird sie auch in der Zukunft noch eine Berechtigung finden und werden die Menschen bereit sein, sich ihr zugehörig zu fühlen.

Dass es in unserer Gesellschaft ein breites spirituelles Bedürfnis gibt, beweisen die vielen esoterischen Gemeinschaften, in denen die Menschen nach einer universalreligiösen Wahrheit suchen. Die Universität Hohenheim bezifferte 2006 ihre Anhängerzahl in Deutschland auf   15 % der Bevölkerung (besonders Frauen). Die Menschen suchen hier spirituell nach einem Sinn und hoffen, ihn über die Astrologie, Magie oder Geistheilung zu erhalten. Der jährliche Markt für ihre Produkte wird auf 20 – 25 Mrd. Euro geschätzt. Allein 2013 gab es in Deutschland für ihre Produkte 50 Esoterik-Messen.

Für die religiösen Menschen sind die Atheisten die Bösen in unserer Gesellschaft. Das sind die Personen, die an keinen Gott und nicht an ein  Leben nach ihrem Tode glauben. Die Agnostiker sind weniger schlimm. Sie gehen nur von einer Nichterkennbarkeit Gottes aus. Den Atheisten wird vorgeworfen:

  • alle Götter abzulehnen (nicht nur die ihrer Gegner),
  • die Entstehung des Universums nicht zu kennen,
  • keine Moral zu kennen,
  • ein Leben ohne Sinn zu führen,
  • für die großen Menschheitsverbrechen verantwortlich zu sein (dabei wurden sie fast alle im Namen einer Religion ausgeführt),
  • nicht die Vorteile der Religionen für die Gesellschaften zu sehen.

Besonders nach dem verlorenen Peloponnesischem Krieg begannen die Philosophen in Athen an den Göttern zu zweifeln. Sokrates musste wegen ihrer Missachtung den Giftbecher trinken. Diagoras von Melas wurde auch wegen ihrer Missachtung zum Tode verurteilt, konnte aber später, wie auch Theodoros (der „Atheist“), fliehen. Nach Epikur (um 300 v. Chr.) interessierten sich die Götter nicht für die Menschen. Die Erde bestehe nur aus Atomen und leerem Raum. Deshalb solle man sein Leben auch genießen und sich um seine Freunde kümmern. Nach dem Tode komme nichts mehr. Plato löste damals das weiterhin bestehende Problem der Spiritualität, indem er allen Dingen eine Essenz, etwas Wesenhaftes zusprach. Die Essenz des Menschen sei seine Seele, eine metaphysische Substanz, die später zu einem zentralen Glaubensinhalt des Christentums wurde.

Mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt an eine unsterbliche Seele in ihnen. Die Neurobiologen halten sie für eine Fata Morgana und unsere Gefühle und Gedanken für physikalische Vorgänge in unserem Kopf. Für die alten Griechen war die Seele der „Lebensatem“, für Platon das „Unsterbliche“ des Menschen. Allgemein verstehen die religiösen Menschen unter ihr

  • die metaphysische Substanz in einer Person,
  • die Gesamtheit unserer nichtmateriellen Energie,
  • dasjenige von uns, das nach unserem Tod überlebt,
  • die Summe all unserer Emotionen,
  • dasjenige in uns, dass unserem Dasein auf Erden einen Sinn gibt.

Wissenschaftlich wird vermutet, dass unsere Anfälligkeit für Übersinnliches unseren Urinstinkten entspringt. Bei Unbekanntem aktivieren sie in unserem Gehirn bestimmte Schaltkreise. Wahrscheinlich befindet sich im Schläfenlappen ein Areal, das auf transzendente Erfahrungen reagiert. Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass unsere Gottesvorstellungen oft die Ergebnisse von Halluzinationen in ihm sind. Damit hätten religiöse Erlebnisse neuronale Hintergründe. Versuche haben gezeigt, dass man sie mit Hilfe elektrischer Spulen erzeugen, bzw. fördern kann. Wahrscheinlich tragen 100te Gene zu einer Religiosität bei, indem sie bestimmte Botenstoffe im Gehirn regulieren. So wird vermutet (Dean Hamer), dass im Gen VMAT2 eine angeborene Anlage für das religiöse Empfinden im Menschen besteht. Man hat festgestellt, dass

  • spirituelle Neigungen erblich sind. Wie sie sich entwickeln, hängt dann vom Glauben ab, von persönlichen Lebenserfahrungen, dem kulturellen Umfeld
  • bei meditierenden Menschen manche Hirnregionen aktiver als üblich sind. Ihre Bereiche für Mitgefühl und Empathie sind größer entwickelt.
  • viele Heilige psychisch krank waren (oft Borderliner, Epileptiker, Schizophrene). Sie verhielten sich unnormal, auffällig. So war
    • der Apostel Paulus ein Epileptiker, seine „Erleuchtung“ ein epileptischer Anfall, eine elektrische Entladung in seinem Schläfenlappen.
    • Epileptiker sollen auch Mohammed, Franz von Assisi und Hildegard von Bingen gewesen sein.

Ein Glauben verändert die Schaltkreise in einem Gehirn. In seinem Zentrum unterscheidet es zwischen den Signalen des eigenen Körpers und denjenigen der Umgebung, einer Auflösung des Ichs. So können Meditierende zu einem Gefühl des Verschmelzens mit etwas Größerem kommen, einer mystischen Einheit mit Gott.

Während einer Meditation ist ein bestimmter Hirnbereich im oberen Scheitellappen weniger aktiv. Es sind die Bereiche der Selbstwahrnehmung des Meditierenden im Raum und sein Körperbezug zur Umgebung (mystische Erfahrungen haben deshalb einen neurologischen Hintergrund). Es scheint im Gehirn Bereiche zu geben, die auf transzendentale Erfahrungen ansprechen. Manche Drogen scheinen oft ähnliche Wahrnehmungen hervorzurufen, indem sie Signalübermittlungen zwischen den Nervenzellen ähnlich wie Serotonin beeinflussen. Meditationen sind Transzendentierungen des Ichs. Sie sind für den Geist Hygieneübungen, ein einfaches Sein im Augenblick. Indem sie eine Form der Hinwendung zur nackten Realität kultivieren, trennen sie einen vom Begriff und damit von störenden Gedanken und Gefühlen. Sie helfen einem, negative Emotionen zu überwinden. Meditierende gewinnen eine andere Ausstrahlung, eine innere Ruhe und damit eine spezifische Form einer inneren Freiheit. Sie bedeuten eine Einkehr der Stille in uns selbst. Indem Gedanken und Gefühle einen ungehemmt durchwandern, sie einen tiefer erleben lassen, um so stärker wird eine Ruhe empfunden, die einen spirituell zu einem als wahrhaftig empfundenen Sein führt. Für Meister Eckhard (um 1260 – 1327) erreichte die geistige Arbeit ihre höchste Stufe durch ein „nichts wollen, nichts wissen, nichts haben“. Dabei war Gott für ihn das reine Sein und die Vernunft dessen Tätigkeit in uns. Meditationen können helfen, seine eigene Mitte zu finden und damit eine wesentliche Funktion in der Suche nach seinem Daseinssinn zu erfüllen. Bei manchen ihrer Techniken ist es ratsam, einen Lehrer zu haben, da man sich bei ihnen verlaufen kann, bzw. bestehende Psychosen durch sie verstärkt werden können.

Heute werden Meditationen in der Form von Achtsamkeitsübungen zunehmend zur Selbstoptimierung genutzt und damit ihrem eigentlichen spirituellen Bezug entfremdet. Sie reduzieren sich weitgehend zu Atem- und Konzentrationsübungen. Befreit von ihren historischen religiösen Hintergründen erleben sie in der westlichen Kultur einen Boom. Das „Nichtdenken“ wird darin als eine Tugend erkannt.       Durch das bewusste Atmen soll eine persönliche Entschleunigung erreicht werden, eine Reduzierung des Stresses, ein Abbau der Ängste, die Immunabwehr verbessert werden und Depressionen evtl. gemildert werden. Man erfährt seine Präsenz als etwas Zeitloses ohne einen Ichbezug, indem die Hirnstrukturen besonders im Hippocampus verändert werden. Dadurch führen auch diese meditationstechnischen Wege zu einem inneren Frieden. Das Problem dabei ist allerdings, dass bei allem Nutzen für das „Ich“, der Bezug zum “Wir“ zu Schaden kommt, zumal der Mensch biologisch primär existentiell ein auf Gemeinschaften ausgerichtetes Wesen ist. Durch die westlichen Achtsamkeitsübungen sind die ursprünglich kulturell angelegten Meditationsprogramme weitgehend entkernt worden und dienen jetzt oft allein der Selbstoptimierung in einem neoliberalen Umfeld. In der Öffentlichkeit hat man für sie deshalb den abwertenden Begriff des „Psychopathen-Zens“ gefunden.

Ursprünglich hatten die Meditationsübungen im Hinduismus, Buddhismus und Daoismus eine ähnliche Bedeutung wie im Christentum das Gebet, der Alltag abgelöst durch Ruhe und Genügsamkeit. Die Übungen steigerten die eigenen Körperwahrnehmungen, führten zu einer größeren Bindung zu Mitmenschen, indem sie die soziale Verbundenheit förderten. Im Ideal versprachen sie ein Erkennen der Realität des Seins, die Erfahrung eines Erwachens, einer „Erleuchtung“. Je nach der uns prägenden Kultur nehmen wir unsere Umwelt verstärkt materialistisch oder idealistisch wahr. Beide Ansätze basieren auf verschiedenen Vorstellungen vom Sein. Gewöhnlich befindet sich unser Bewusstsein auf einer ständigen Wanderschaft, einer ständigen Abfolge von Gedankenketten. Meditationen reduzieren sie.

Je nach Kultur haben sich verschiedene Meditationstraditionen entwickelt. Man unterscheidet über 300 verschiedene Techniken. Die bekanntesten sind:

In einer fernöstlichen Tradition (dort in den verschiedenen Ländern, je nach Religion     und Tradition unterschiedlich kultiviert): In

  • China: Daoismus: Vereinigung des Ichs mit dem Kosmos mit Hilfe von Atem-, Konzentrations- und Körperübungen (u.a. Tai-Chi, Qigong). Sitzen im Vergessen, beim Beginn der Dinge sein.
  • Indien: Sitzmeditationen, oft mit Bewegungen verknüpft (im Hinduismus verwurzelt, aber auch vom Buddhismus beeinflusst). In mehreren Stufen mit dem Erkennen eins werden.
  • Sri Lanka / Thailand: Vipassana (Sitzmeditation, buddhistische Weiterentwicklung des Yoga). Einsichten in die wahre Natur der Realitäten gewinnen.
  • Tibet: Sitzmeditation zum Anstreben der Buddha-Natur. Buddhistische Form des Strebens nach Erleuchtung. Befreiung vom Leiden, indem dieses durchschaut wird.
  • Japan: Zen (vom Daosismus und Buddhismus beeinflusst): Das Denken zur Ruhe bringen. „Erleuchtung“ („satori“) und Einsicht in einer universellen Einheit erreichen. Alle ichbezogenen Vorstellungen fallen lassen. Völlig offen für die Gegenwart sein, ganz Moment sein. Egal welche Gedanken auftauchen, sich von Bildern und Vorstellungen lösen, die alle nur Projektionen unseres Bewusstseins sind.
  • Vorderasiatische Meditationsformen (monotheistische):
    • Christentum: Mystik (Einswerden mit Gott),
    • Islam: Sufismus (in Gott aufgehen),
    • Judentum: Kabala (Verbundenheit mit Gott über dem Durchschauen des Ichs).
  • Westliche Meditationsform:
    • MBSR (Mindfulness – Based Sress Reduction): Achtsamkeitstechniken nach Jon Kabat-Zinn. Oft aus den spirituellen Meditationsschulen und Bewegungsübungen des Yoga abgeleitet.

Die verschiedenen Meditationstechniken haben verschiedene Wirkungen auf die Psyche, die verschiedenen Gehirnregionen unterschiedlich ansprechen. Allgemein erzielen sie eine höhere Integrität zwischen den Gehirnhälften und in mehreren Regionen eine größere Dicke der Grauen Substanz (u.a. des Hippocampus). Untersuchungen haben auch gezeigt, dass Meditierende im Vergleich zu Nichtmeditierenden physisch ein geringeres Vergleichsalter besitzen (z.B. 42,5 Jahre statt real 50). Das heißt, man kann der spirituellen Wahrnehmung eine gewisse Bedeutung für unser persönliches Dasein und unsere existentielle Sinnfindung nicht absprechen. Mit Hilfe von Übungen können sie uns helfen

  • unser Ich als ein Konstrukt zu erkennen,
  • positive Emotionen zu entwickeln,
  • auf dem Weg zu einer verschütteten Spiritualität wieder eine Transzendenz von Subjekt und Objekt anzustreben.

Diese Übungen betreffen in erster Linie

  • unsere Atmung,
  • unsere Emotionen und Körperwahrnehmungen,
  • die Beobachtung, wie unsere Gedanken im Geist entstehen, ohne an ihnen zu haften,
  • tiefe Entspannungen bei vollem Bewusstsein,
  • letztlich wieder unseren spirituellen Hintergrund, eine nicht materielle, sondern primär geistige Orientierung (u.a.: „Was ist unser Existenzsinn“?).

Zu diesem persönlichen spiritistischem Daseinsbezug kommt beim Menschen als Sozialwesen sein Gemeinschaftsbezug. Ohne diesen kann er nicht sein. Ohne die Fürsorge der Mutter kann er als Kleinkind nicht überleben. Danach erhält er von seinem sozialen Umfeld seine entscheidenden Orientierungsprägungen und erwirbt er im Bezug zu seinen sozialen Gegenüber sein Selbstwertgefühl. Aus dem allen erwächst dann für ihn seine Antwort auf die Fragen nach dem Sinn seines Daseins. Das Verbindende innerhalb von Gemeinschaften sind ihre Werte. Während die Theisten diese über Setzungen von einem persönlichen Gott ableiten, ersetzen die Atheisten sie durch einen „säkularen Humanismus“ (nach Ronald Dworkin). Für viele Kulturen ist ihr „Gott“ ihr zentraler Identifikationsinhalt, der ihre Gemeinschaften zusammenhält. Für ihre Mitglieder wird er zum bestimmenden Inhalt ihrer Zusammengehörigkeit. Über Rituale werden dann die Werte emotionalisiert und verinnerlicht. Neben der Festigung der Gruppenzugehörigkeit können sie auch der Beschwörung eines Jagderfolges, einer Konfliktminimierung, Feindabwehr oder Bestattungsabläufen dienen. Vielleicht spielte bei ihren Anfängen die Magie eine gewisse Rolle. Der Schamanismus versuchte mit Musik, Tanz und Drogen Bewusstseinsänderungen zu erreichen, um darüber dann Zukunftsvorhersagen und Krankenheilungen zu initiieren. Auch das Wetter versuchte man so zu beeinflussen und übermächtige Naturkräfte milde zu stimmen. Der Schritt zu den Religionen war dann nicht weit, er bestand in den Versuchen, das nicht Fassbare zu fassen. Viele unserer heutigen Künste sind aus Riten entstanden, z.B. die Musik aus sakralen Klängen. Über die Rituale in der Gemeinschaft wurde der Verlust der Individualität zu einem befreienden Akt. Sie schaffen Sicherheiten, festigen persönliche Setzungen. Ihr Problem können aber auch die Begrenzungen sein, die sie schaffen, die im anthropogenen Bereich dann die Hauptursache für deren soziale Auseinandersetzungen, Kriege und Morde sind. Durch keinen anderen Umstand wurden so viele Menschen umgebracht wie durch die verschiedenen Ideologien, sei es religiöser oder nationaler Art.

Rituale besitzen oft einen hohen symbolischen Gehalt. Ihre Bedeutung für die Gemeinschaft kann sich ausdrücken im/in

  • Organisieren des Alltags,
  • seinen Überhöhungen (z.B. über Veranstaltungen, Feste),
  • Anbieten von Rollen,
  • Schaffen von Statuspositionen,
  • Steuern von Emotionen,
  • Fördern des sozialen Zusammenhalts,
  • Schaffen von Nähe (dadurch können sie der Aussöhnung dienen),
  • Versprechen von Inhalten (z.B. Geschenke zu Weihnachten, Treue einem Partner gegenüber),
  • Entlasten bei Verantwortlichkeiten (z.B. im Krieg),
  • Schaffen von Orientierungsmustern,
  • Befolgen einer festgelegten Dramaturgie,
  • Angebot eines Zusammenseins.

Hinter Ritualen stehen immer sozial fest verwurzelte Ideologien, die in den Gehirnen der einzelnen Menschen verinnerlichte biochemische Abläufe aktivieren und so unseren Bewegungen und Handlungen im Alltag ihre Stabilität verleihen.

Rituale sind für den Zusammenhalt von Gemeinschaften enorm wichtig, So ist der Zerfall unserer Familien oft auch ein Ergebnis des Verlustes gemeinsamer Rituale, sei es durch die zunehmende Verschiedenheit ihrer Umwelt, ihrer Arbeitswelt, der Entfernung ihrer Wohnstätten. Oft verbessern ein einfaches Zusammenkommen, gemeinsame Handlungen, ein Gespräch und ein gemeinsames Essen und Trinken die entfremdete Situation. Unsere zurzeit gelebte Vereinzelung führt uns von dem in uns biologisch angelegten Menschsein fort zu mehr Individualität, Konsum, Ressourcenverbrauch, Umweltzerstörung bei gleichzeitiger Förderung zivilisatorischer, digitaler Errungenschaften, d.h. zu einem Dasein fort von den in uns angelegten evolutionären Botenstoffverbindungen zu artfremden kulturell geförderten Setzungsverbindungen, die in ihrem Kern von uns nur als Neurosen gelebt werden können, – Neurosen die dann unseren Individualismus bestimmen. Die Lösung dieses Problems besteht in einer gewissen Rückkehr zum evolutionären Urmenschsein, zu einem Menschen, der sich in seiner Umweltwahrnehmung noch voll seinen spirituellen, inzwischen weitgehend verschütteten Wahrnehmungsmöglichkeiten öffnen kann. Dabei ist vielleicht weniger der „westliche Mensch“ mit seinen Freiheitswerten angesprochen, sondern der östliche mit seinen Meditationserfahrungen. Vielleicht öffnet sich uns so ein neuer Weg mit einer neuen Erfahrung des Erhabenen zum Religiösen.

Einstein sagte in seinen Ausführungen zu seinem „Weltbild“ dazu:

  • „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der tiefsten Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen“.
  • „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen“.