Der Mensch ein „Mängelwesen“

Der Mensch ein „Mängelwesen“

Die Orientierung des Menschen wird von seinen über die in seiner Evolution erlangten Instinkte und durch die Prägungen seiner jeweiligen Kultur bestimmt. Als „Mängelwesen“  (bedingt durch seinen reduzierten Instinktbesitz; vielleicht entstanden durch einen Verlust von Hierarchiepositionen in seinem Gehirn) ist er auf eine Kultur angewiesen, deren zentraler Inhalt ihre Orientierungshilfen, ihre Orientierungs-, Zeichensysteme und ihre Sprache auf der einen Seite sind und deren Vermittlung, die soziale Kommunikation und der in der Kultur überlieferte Erfahrungsschatz auf der anderen Seite steht (so bereits in der Antike von Protagoras gesehen und im vergangenen Jahrhundert breit von Arnold Gehlen ausgeführt). Man kann den Menschen auf Grund seines Instinktmangels sowohl als eine Naturkatastrophe sehen (wobei diese ihm evtl. noch bevorsteht) wie auch als eine Bereicherung der Natur. Auf Grund seiner instinktiven Unvollkommenheit ist der Mensch gezwungen, sich im Rahmen kausaler Rückschlüsse selbst zu orientieren und ist er befähigt, im Sinne seiner von ihm selbst, seiner Kultur geschaffenen Vorgaben, seinen Orientierungssetzungen, seinen Axiomen oder Apriori zu werten und für eine sinnliche Vielfalt offen zu sein (d.h. u.a. eine gewisse ästhetische Breite wahrzunehmen und überhöhen zu können). 

Auf Grund seines Instinktmangels lebt der Mensch in einem ständigen Grundgefühl der Angst, die ihn auf einer ständigen Suche nach einer sicheren Orientierung führt (wie es bereits die indischen Religionen und bei uns in Europa Schopenhauer, als einer der Väter unseres Individualismus, betonten). Rational geben wir uns diese über Setzungen, die wir uns aus einer

  • Fülle von Anmutungen (z.B. Natureindrücken),
  • den Möglichkeiten partieller Naturbeherrschung,
  • den Aussagen charismatischer Führungspersönlichkeiten (z.B. Religionsstiftern),
  • den Bedürfnissen von Machtsicherungen,
  • paradigmatischen Faktenwahlen (z.B. Wissenschaftsentscheidungen) ableiten. Letztlich kann sich der Mensch nur im Rahmen seiner Setzungen orientieren.

Der Mensch ist ein „teiloffenes“ Wesen. Sein offener Teil wird geformt durch

  • die Kultur in der er aufwächst,
  • seine verinnerlichten Erfahrungen,
  • von ihm selbst geschaffenen Orientierungssetzungen.

Seine Besonderheit ist der Umstand, dass er sich anstelle einer instinktiven Orientierung in seinem Bewusstsein vorrangig kausal-rational entscheidet und seine Entscheidungswege relativ bewusst erlebt. Der Mensch kann Situationen sinnlich erfassen, wahrnehmen und auf sie rational reagieren (auf der Grundlage tiefer in ihm liegender Bewusstseins-, bzw. Stoffwechselabläufe). Er handelt auf dem Hintergrund von Bedürfnissen:

  • existentiellen (zum Erhalt seines Lebens),
  • beglückenden (in Verbindung mit positiv empfundenen Stoffwechselabläufen oder dem Vermeiden deren negativen Folgen).

Für wahrscheinlich alle übrigen Lebewesen (Wale ?) ist ein instinktgesteuertes Verhalten „natürlich“. Der Mensch muss dagegen seine (begrenzte) Unabhängigkeit von ihnen durch Orientierungssetzungen ausgleichen. Sie eröffnen ihm einerseits seine Verhaltensvielfalt, seine „Freiheit“, aber schaffen andererseits auch seine Orientierungslosigkeit, die gewisse Beliebigkeit seiner inneren Ausrichtung, seine Manipulierbarkeit. Seine „Offenheit“ schuf in ihm seine Fähigkeit sich vielen Standortgen anpassen zu können. Sie ermöglichte in ihm, pluralistisch zu denken und innerhalb sozialer Gruppen für eine gewisse Zeit fruchtbar, paradigmatisch immer neue Orientierungswege zu finden. Als „Mängelwesen“ ist der Mensch zwar zugleich ein instinktreduziertes, aber auch ein „weltoffenes“, „weltaufgeschlossenes“ Wesen.

Aufgrund seiner Beschaffenheit als „Mängelwesen“ ist der Mensch auf Orientierungsset-zungen angewiesen. Das gilt für jedes Individuum. Die Aufgabe der Philosophie ist es nun, diese ständig neu rational zu überdenken und zu liefern. Sie legt damit die Grundsteine zu dessen kulturellen Evolution. Man muss sich dabei aber immer bewusst bleiben, dass auch sie weitgehend von fantasiereichen Gedankengebäuden (sie zeichnen oft die „großen“ Philosophen aus), paradigmatischen Logiksystemen und historischen Kulturvorgaben bestimmt oder beeinflusst werden.

Alle unsere Orientierungssetzungen sind wahrscheinlich aus einer zunehmenden Rationalität gegenüber unseren spirituellen Umweltbezügen hervorgegangen (d.h. aus teilweise instabilen, überdeckten Instinkten, aus verschieden intensiven Verhaltensimpulsen, die von den einzelnen Kulturgruppen für deren Beherrschung institutionalisiert wurden),

  • zunächst in der Form eines ausgebildeten, ritualisierten Naturbezuges als Religiosität,
  • danach als hinterfragter Naturbezug in der Philosophie und
  • heute in der Form unserer Wissenschaften.

Dabei ergab sich unsere Rationalität wiederum wahrscheinlich aus der

  • Beobachtung kausaler Zusammenhänge und
  • deren sozialer Weitergabe,
  • in der Form genetisch angelegter Vorgaben,
  • die sozialisiert die menschlichen Denksysteme ergaben
    (z.B. deren Sprachen, deren Logiksysteme).

Wir entnehmen viele unserer Orientierungskriterien und Werte wahrscheinlich in uns angelegten physischen Grundprozessen, die wir inhaltlich einem Kulturkriterium, einer Setzung im Rahmen unseres allgemeinen Orientierungssystems, den speziellen Logiksystemen unserer Kultur zuordnen. Die Grundanlagen dafür gehören zum genetischen Erbprogramm des Menschen. Die Ergebnisse davon sind dann

  • anthropoid (Menschenähnlich),
  • anthropomorph (vermenschlicht),
  • anthropogen (vom Menschen geschaffen),
  • anthropozentrisch (den Menschen in den Mittelpunkt stellend).

Vereinfachend ausgedrückt vollzieht sich die menschliche Orientierung auf

  • drei Orientierungsebenen ( Wahrnehmungen, Setzungen Erkenntnissen ) und
  • drei Orientierungsweisen (instinktiv, rational, fiktiv).

Wahrnehmung:
Sie erfolgt weitgehend über unsere Sinne, unser Nervensystem und die neuronalen Schaltungen in unserem Gehirn. Unsere Orientierung darauf ist weitgehend instinktiv vorbestimmt.   

Setzungen:
Sie sind angelehnt an instinktive Urängste und Urbedürfnisse, auf die es keine rationalen Erfahrungsantworten gibt und auf die man mit sozialen oder persönlichen hypothetischen Setzungen reagiert. Hierher gehören die  Religionen und Ideologien.

Erkenntnis:
Sie ist weitgehend das Ergebnis kausaler Schlussfolgerungen aus persönlichen und sozialen Erfahrungen, eingebettet in ein kulturell vermitteltes Logiksystem, d.h. im Wesentlichen in eine Sprache als deren wichtigsten Denk- und Kommunikationsmittel. Sie ist abhängig von ihren Fakten  (Subjekten) und der Struktur dieser ihrer Logiksysteme.            

Für jede dieser Ebenen gibt es eine Hauptzugangsweise:

  • auf die Wahrnehmung hauptsächlich instinktiv-emotional,
  • auf die Setzungen hauptsächlich spekulativ-fiktiv,
  • auf die Wissensebene hauptsächlich kausal-rational.

Dabei ist für die psychische Gesundheit des Individuums primär die emotional bestimmte Ebene entscheidend und für die Funktionsabläufe der Erkenntnisebene die sozial beherrschten kausal-rationale. Ihre Probleme sind, das auf

  • psychischer Ebene genetische Vorgaben und neuronale Schaltungen unsere Orientierungsansätze bestimmen,

sozialer Ebene die Interessen von Gruppen (z.B. Kapitalgeber, Wissenschaftler) unsere Orientierungen zu lenken versuchen.      

Beides führt zu Problemsituationen.

Unser wichtigstes Logiksystem ist dabei die Sprache. Es ist kein Zufall, dass im Mittelalter der Universalienstreit das Zentralthema der damaligen Philosophie bildete, die Frage nach dem Verhältnis unserer direkten Erfahrungsbegriffe zu den abstrakten Allgemeinbegriffen, d.h. der Wahrnehmungsebene zu der Erkenntnisebene. Ihre Probleme begannen, als sie die Setzungsebene in die Erkenntnisebene einzubeziehen versuchten. Diese Diskussionen wurden in abgewandelter Form dann in der Sprachphilosophie der Neuzeit fortgesetzt, als man den Erkenntnisgehalt der Sprache als Logiksystem zu durchdenken begann.

Hauptsächlich über die Sprache bekommen wir unsere Kultur vermittelt und damit über deren perspektivischen Filter auch deren Welt. Ihre Orientierungsinhalte werden uns für unsere Verständigung sozial mitgeteilt (mit einer jeweils gewissen intuitiv-mentalen Anschauungs-breite). Erst eine Sprache als ein in sich geschlossenes Logiksystem schafft mit ihren Bausteinen (Begriffen) die Voraussetzungen für unsere Denkvorgänge und führt zum intersubjektiven Wissen eines Kulturhintergrundes. Auf ihrer Grundlage wird kommuniziert, werden Informationen gesammelt, bearbeitet und weitergegeben. Sie ist in ihren Grundstrukturen ein für ihre Hörer verständigendes System von Orientierungssetzungen und in ihrem Orientierungsrahmen das strukturelle Metasystem jeder Kultur.

Als uns bewegende Lebewesen sind wir existentiell auf gewisse Bewegungen angewiesen (z.B. zu unseren Energiequellen und unseren Fortpflanzungspartnern). Unsere Orientierung dafür erfolgt instinktiv über unser genetisches Programm oder rational über ein System strukturierter Setzungen, kultureller Anhaltspunkte. Aus beiden Vorgaben schaffen wir in unserem Gehirn unser persönliches Orientierungsprogramm und versuchen darüber unsere individuelle Existenz zu sichern. Unsere genetischen und kulturellen Vorgaben haben dabei einen sozialen Vorrang vor unseren kurzzeitigen Erfahrungen, der Hintergrund der Welt aus der wir kommen, die Natur in ihrer Ganzheit vor unserem persönlichen Betroffensein.  

Dabei besitzen wir kaum sachliche Kriterien für unsere sozialen Orientierungssetzungen, – vielleicht als einzige die Natur als solche, weil wir zu ihr gehören, ein Teil von ihr sind. Alle anderen Orientierungsvorgaben scheinen Setzungen zu sein, die wir den zeitabhängigen Formen unseres Zusammenlebens oder unseren Denk-, d.h. Logiksystemen entnehmen (zu letzteren gehören unsere Sprachen, Religionen, Ideologien oder Wissenschaften). Auch die philosophischen Denksysteme sind genau genommen nur Setzungssysteme, wie sie uns von Aristoteles, Descartes oder Kant angeboten werden. Oft stellt die Philosophie nur den Versuch dar, nachträglich Orientierungssetzungen, das Apriorische rational zu begründen.

Kulturell gibt es verschiedene Orientierungsmöglichkeiten, -stufen: z.B.

  • Umweltorientierungen (z.B. in der Natur),
  • Grundorientierungen (z.B. Religionen, Ideologien),
  • soziale Bezugsorientierungen (z.B. Gemeinschaften, Nationalitäten),
  • persönliche Orientierungen (z.B. Erfahrungen),
  • Projektionen (z.B. auf eine Zukunft hin).

Sie alle bilden die Authentizität eines Menschen und sind oft als verinnerlichte Grundhaltungen unumstößlich. Der einzelne ist kaum in der Lage ihre Relativität nachzuempfinden. Wir bewerten mit ihrer Hilfe Begegnungen, Lebenssituationen und bedenken dabei in der Regel nicht gleichzeitig, dass wir bei deren Schlussfolgerungen oft auf nicht hinterfragte, nur kulturell verinnerlichte Werte, Kriterien, Qualitätssetzungen bauen. Jede menschliche Orientierung erfolgt letztlich auf dem Hintergrund sozial vermittelter Systeme (wissenschaftlich in den kausalen Strukturwissenschaften z.B. über die Mathematik und in den Geisteswissenschaften über die Semantik).

Als Mensch orientieren wir uns auf drei Ebenen: Der

  • Instinktebene,
  • Wahrnehmungsebene,
  • Abstraktionsebene unserer Setzungen (hier besonders den Strukturvorgaben der Mathematik).

Unabhängig davon, dass sie sich, – je nach Situation mit verschiedenem Anteil -, ständig gegenseitig beeinflussen.

Unsere Orientierungssetzungen sind die rational tragenden Vorgaben für unser Denken und Handeln. Ohne sie ist ein menschliches Leben nicht möglich. Für das einzelne Individuum stellen sie die „höhere Instanz“ dar, auf die es sich bezieht und von der aus es seine Handlungen kausal-rational zu begründen versucht. Sie sind z.B. die Grundlagen von

  • Logiken, deren Grundstrukturen (auch in ihren Grenzen) im Menschen genetisch angelegt sind (hauptsächlich in seinem Gehirn),
  • Religionen, die nach der bildlichen Ausgestaltung dieser Instanz (bei uns in der Regel „Gott“ genannt) und historischen Gruppeninteressen ihr heutiges Profil angenommen haben,
  • Ideologien,
  • identitätsstiftende Programme.

Mit allen Orientierungsprogrammen setzen wir uns zu unserer Umwelt in einen bestimmten, uns sozial vorgegebenen Beziehungszusammenhang.

Der soziale Bezug von Orientierungsvorgaben wird dabei in der Regel unterschätzt. Entscheidend sind als Orientierungsvorbilder

  • für den Alltagsmenschen seine sozialen Orientierungsinhalte:
    seine jeweiligen Eliten, Superstars, Helden, Künstler, herausragende Personen.
  • in den Wissenschaften die jeweils geltenden Paradigmen, die Gedankenschulen denen man angehört.

Einerseits entlasten sie einen in einem bestimmten Rahmen von der Verantwortung für das eigene Tun, andererseits stellen sie für den menschlichen Fortschritt als Stufen für neue Aufbaubasen eine Notwendigkeit dar.  

Das Fehlen eines tragenden Orientierungskonzepts führt beim Einzelnen zum Ausbau einer breiten „Event“-Kultur und einem relativ inhaltsleeren Zeitfüllen mit „Shoppen“  oder der Hingabe an ein passives Bedientwerden (als Dauerhaltung z.B. im Schiffstourismus oder vielen Urlaubsangeboten). Wenn wir keinen inneren Orientierungsinhalt haben, versuchen wir uns von unserer Leere abzulenken (für viele Menschen die Haupttätigkeit ihres Daseins). Dabei heben sich die Orientierungsinhalte der einen und die Leere der anderen in ihrer Wertigkeit bezogen auf die universelle Ganzheit gegenseitig auf. Sie spielen nur eine Rolle in Bezug auf ihre Stellung in den sozialen Systemen, in denen sie gelebt werden. Die Menschen streben nicht nach Wissen (wie Aristoteles es meinte), sondern nach einer inneren Orientierung, einem möglichen Weg in ihrem Dasein. Und wenn sie ihm eine besondere Bedeutung geben wollen, dann suchen sie nach einem Inhalt, einem Ziel für denselben, nach einem Sinn.

Unsere Wirklichkeit ist eine Welt der Sinne. Nur was wir sinnlich wahrnehmen können, besitzt für uns eine greifbare Existenz. Unsere Realität ist dagegen, was innerhalb unserer verinnerlichten, sozialen Setzungen, unserer inneren Kultur unserer Logiksysteme entspricht. Sie besitzt für uns einen Orientierungswert, für uns einen inneren Wahrheitsgehalt. Zu unseren wichtigsten Setzungen gehören u.a. 

  • bei Platon der Gedanke der Ideen und der Seele,
  • im Mittelalter die Universalien,
  • bei Kant der Bereich der Apriori und der Kategorien,
  • alle Dogmen,
  • viele wissenschaftliche Paradigma.

Wir benötigen sie zu unserer Orientierung. Ihr Wahrheitsgehalt ist aber an ihre Denksysteme gebunden, denen sie entstammen. Unser Orientiertsein ist anthropologisch in sich begrenzt. Unsere Wirklichkeit ist immer an unsere Sinne gebunden, die auf Grund ihrer Evolution nur bestimmte Facetten  unseres Seins, des Seins erfassen können. Unsere „reale“ Welt ist an unsere Denksysteme gebunden. Beide erfassen die „Wahrheit“ der Welt nur in den neuronalen Grenzen des Menschen,

  • individuell in den Grenzen eines bestimmten Menschen.           
  • sozial in den Grenzen seiner kulturellen Denksysteme.

Wir nehmen unsere Erscheinungswelt wertend wahr, d.h. über Setzungen, die ihren Grund in unserer jeweiligen Kultur haben.

  • (Es ist eine der Aufgaben der Philosophie, diese Werte in ihren Gründen zu hinterfragen. Als einzige Bezugspunkte dafür erscheinen uns (in der Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens):
  • zum einen unsere Vergangenheit, die Hintergründe unserer Evolution, die Natur in ihrer Ganzheit,
  • zum anderen die spekulativen Verlängerungen möglicher wissenschaftlicher, technischer oder sozialer Entwicklungsstränge.

Jeder unserer Gedanken ist eine geistige Bewegung in Setzungen. Dabei ist jedes seiner Kriterien bereits eine Setzung. Sie alle unterliegen angeborenen, evolutionären Grundmustern. Sie schaffen in uns in einem zweiten Schritt neuronale Bereiche, über die wir nicht mehr nachdenken müssen. Innerhalb unserer Existenz stellen sie entlastende Orientierungskonzepte dar.

Jeder Gedanke ist bereits das Ergebnis einer Summe sozialer Setzungen, die addiert und mit persönlichen Emotionen beladen die Realitätsergebnisse unserer Orientierungen darstellen.

Alle unsere Werte stellen Setzungen, soziale Konstrukte dar. Dabei können sie so allgemein sein, dass man sie auf jeden Inhalt beziehen kann oder so akzentuiert, dass man in Verbindung mit ihnen auch das Gegenteil behaupten, oder Inhalte von ihnen in Frage stellen kann. In der Philosophie beschäftigt sich die Ethik mit ihnen. Im Alltagsleben ist ihre Anwendung oft interessengebunden.

Alle unsere Gesetze sind Setzungen, hinter denen Interessen stehen. Jede Aussage über Welten außerhalb unserer Sinnenwelt sind Setzungen, jedes Axiom. Popper machte sie mit seiner Falsifikation zum direkten Ausgangspunkt seines induktiven Erkenntnisvorgehens. Unsere Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit sind Setzungen, – genau genommen alle Zentralthemen der Philosophie. Erst in einem zweiten Schritt erfolgen auf deren „Erkenntnissen“ unsere Alltagsorientierungen. In unserer modernen Zivilisation werden die Setzungen der Wissenschaften und der Kunst (zusammengefasst im Begriffsverständnis unserer Hochkultur), noch zwischen den zentralen, sozialen Setzungen und den Alltagsorientierungen geschaltet. Im Rahmen seiner „Mängel“, seines Orientierungsdefizits schafft sich der Mensch seine geistige Umwelt selber, macht sie zum Ausdruck seiner Kultur (und indem er dabei die Natur zunehmend ausschaltet, zerstört er dabei auch zugleich die Grundlagen seiner biologischen Existenz).

Es gibt Setzungen in Hinblick auf

  • unsere nahe und ferne gegenständliche Umwelt, unsere unmittelbare gegenständliche Welt, die Welt der wir begegnen (der Arbeitswelt der Naturwissenschaften),
  • unsere soziale Welt, unsere reale Bezugswelt, die zu unserer Kulturwelt gehört (erfasst von den Sozialwissenschaften),
  • unsere Sinnenwelt, unsere reale Bezugswelt, die die Ausrichtung unserer Psyche betrifft (u.a. erfasst von den Künsten).

Für sie alle schafft die Philosophie die Ausgangssetzungen ihrer Arbeitsorientierungen, bzw. fügt deren Ergebnisse zu einem einheitlichen Kulturbild zusammen (am Anfang der bewussten Menschheitsgeschichte übernahmen diese Aufgabe der Mythos und später die Religion).

Setzungen besitzen keinen Erkenntnisanspruch (teilweise werden sie nachträglich rational begründet). Sie sind an die menschlichen Denkmechanismen gebunden (die wahrscheinlich in unserem Gehirn neuronal vorbestimmt sind und an bestimmte Strukturvorgaben, die in unseren Logiksystemen, die wir aus unseren Ausgangskulturen übernommen und verinnerlicht haben, gebunden sind). Diese Setzungen steuern dann auch unser psychisches Verhalten, unsere Bedürfnisse und öffnen uns für mögliche Manipulationen (z.B. die der Werbung). Unser Leben erhält durch sie seine perspektivische Ausrichtung. Oft begegnen sie uns nicht nur über Axiome, sondern auch über Symbole, die dann besonderes in der Kunst zu inneren Bewegungsinhalten werden. Man muss ein Pissoir auf einem Podest in einem Museum nicht als Kunst ansehen. Es gibt aber soziale Gruppen, die dies tun und Kunsthistoriker, die dies auch wortreich begründen können.

Setzungen bestimmen weitgehend unser Sozialverhalten. Als sozialer Filter lassen sie viele Gedanken nicht an uns herankommen. Radikalisiert lassen sie uns zu Fanatikern werden. Dies gilt besonders im

  • religiösen Bereich (z.B. heute
    +   im christlichen Bereich bei den Evangelikanern der USA,
    +   im islamischen Bereich bei den IS-Kämpfern,
    +   im jüdischen Bereich bei den israelischen Siedlern,
    +   aber auch bei den Hindus in Indien
    +   oder den Buddhisten in Thailand),
  • ideologischen Bereich
    (z.B. im Kommunismus, Kreationismus, der heutigen Gender- und Feminismus-Bewegung)
  • nationalem Bereich
    (z.B. bei den verschiedenen Nationalismen),
  • rassistischem Bereich
    (z.B. im Ku-Klux-Klan, dem Nationalsozialismus, der Apartheit).

Sie alle stellen psychosoziale Krankheitsformen bestimmter Gesellschaften dar. Oft vermengen sich diese verschiedenen sozialen Gruppen zu einer Stoßrichtung. Radikalisiert, werden hier zunächst soziale Setzungen zu persönliche Setzungen (im Extrem sogar mit der Bereitschaft für sie mit seinem eigenen Leben einzustehen), oft gewachsen aus einem Bedürfnisumfeld, dessen Realisierung sich als Illusion herausgestellt hat. Der Orientierungsbereich wurde danach auf einen einzigen Punkt konzentriert und dieser dann für den betreffenden Menschen besonders bedeutsam.

Jede Kultur wird von ihren Setzungen bestimmt, jedes Individuum von deren Verinnerlichungen. Es gibt eine reale, „wahre“ Welt, die wahrscheinlich in ihrer Ganzheit zwar einfach, aber für den Menschen als solchen unzugänglich ist und eine anthropozentrische, die aus seinen Grenzen heraus gesehen wird. Jedes vom Menschen wahrgenommene Objekt ist immer nur ein Objekt seiner Blickwelt und besitzt bezogen auf die reale Welt immer nur einen perspektivischen Charakter. Unsere Wirklichkeit ist eine Summe unbewiesener Setzungen, die wir für unsere Orientierung benötigen, von Gedankengängen, denen wir einen gewissen theoretischen Realitätsinhalt zusprechen. In dem Augenblick in dem wir anfangen logisch in Strukturen zu denken, sind die Ergebnisse immer anthropogene Antworten, die immer nur Facetten der von uns betrachteten Objekte erfassen können. Eine Folgerung daraus ist, dass auch das vom Menschen gedachte Universum immer nur ein anthropomorphes Universum ist, das deshalb auch immer nur ein perspektivisches Universum sein kann.

Alle unsere Menschenbilder, alle unsere Ideologien und alle unsere Wissensansammlungen sind primär nur Orientierungshilfen, gewonnen in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort für einen bestimmten Zweck.  Wir begnügen uns damit (können gar nicht anders), das für uns Eindeutige als Wahrheit anzusehen. Unsere Setzungen schaffen in uns die Welt mit der wir uns identifizieren. Sie bilden den Weg auf dem wir uns orientieren, bilden aber zugleich auch unsere Grenzen, unsere Mauern.

Wir leben nicht nur in dem Gefängnis unseres Körpers und damit u.a. unseres Gehirns, unseres Stoffwechsels, wir leben auch im Gefängnis unserer Kultur (ohne als Betroffene deren Mauern zu sehen). Unsere Freiheit besteht weitgehend nur darin, dass wir in einem geringen Umfang unsere eigenen Mauern festlegen können, d.h. weit oder eng. Es ist der Spielraum dieser Freiheit, der den Bereich der instinktiven Nichtfestlegung des Menschen ausmacht, seinen empfundenen Entscheidungsspielraum. Ein Freiheitsgewinn ist immer mit einem „sicheren“ Orientierungsverlust verbunden. Und es ist dieser Orientierungsspielraum, der der Philosophie immer wieder ihre Bedeutung für das einzelne Individuum bekommen lässt. Werden keine akzeptierte Antworten gefunden, kommt es zu persönlichen oder gar sozialen Neurosen (wie z.B. teilweise unser heutiger Feminismus).

Der Mensch ist für seine Orientierung ein auf eine Kultur angewiesenes Wesen. Diese vermittelt ihm seine Erziehung. D.h., er ist in seiner Existenz ein kulturorientiertes Wesen, selbst wenn seine Kultur nur einen Überbau über sein Grundwesen darstellt. Seine jeweilige Kultur schafft seine Denksysteme und Leitbilder. Sozial übernommene und innerlich vereinigte Setzungen haben dabei bei den verschiedenen Individuen einen gewissen persönlichen Unschärfecharakter (da die psychische Grundstellation jeweils eine andere ist). Es ist diese Unvollkommenheit gegenüber dem Sozialen, die den emotionalen Reichtum aber auch die unberechenbare Kälte der Menschheit schafft. In seiner begrenzten Offenheit angelegt, öffnen seine Setzungen dem Menschen seinen Weg in die Welt und damit den Weg zu seinem Glück oder auch Verderben.

Das Problem dieser seiner Offenheit ist, dass sie dem menschlichen Wunsch nach einer festen Orientierungsvorgabe widersprich und wir ständig versuchen, teilweise versuchen müssen, sie als einen Ausdruck der persönlichen Freiheit sozial zu begrenzen. Die Schwierigkeiten dabei sind die Rahmen der dafür notwendigen Setzungen. Das Problem unserer heutigen pluralen Gesellschaft ist dabei, dass wir als Gesellschaft zur Zeit weitgehend orientierungslos geworden sind, orientierungslos durch unsere heutigen Forschung und Technik, die in einem unglaublichen Tempo Fortschritte macht, von denen wir aber nicht wissen, wohin sie uns führt. Es ist ein Versagen der momentanen Philosophie, ihnen  heute keine akzeptierte Orientierungsperspektive geben zu können.

Alles „Wissen“ außerhalb unserer persönlichen Erfahrungswelt, das uns sozial vermittelt wurde, ist ein „kultureller Glaube“. Alles „Wissen“, das uns auf Grund von Schlussfolgerungen wissenschaftlicher Hypothesen vermittelt wurde, ist ein „wissenschaftlicher Glaube“ (z.B. unser „Wissen“ über den Urknall). Wir orientieren uns weitgehend in einer Glaubenswelt aus sozial vorgegebenen Setzungen, sozialen Erfahrungen und einer zu Paradigma erhobenen Hypothesenwelt. Unser tatsächliches Wissen ist sehr gering.

Unser „kultureller Glaube“ wird über unsere sozialen Logiksysteme zusammengehalten und weitergegeben, sei es über die sie weitergebenden Sprachsysteme oder die sozialen Institutionen. Ein „Glauben“ ist eine rational nicht hinterfragte, verinnerlichte Setzung. Besonders für uns Unerklärliches heben wir dabei ins Transzendentale. Es macht entsprechende Setzungen unangreifbar. Man kann deren begriffliche Inhalte zwar nicht beweisen, aber auch nicht widerlegen. Es erlaubt uns fantastische Gedankengebäude mit einer eigenen Begrifflichkeit und eigenen Logiken zu schaffen. Sie sind der Beschäftigungsbereich der Metaphysik und stehen inhaltlich oft der noch fantasiereicheren Theologie nahe. So sind alle Religionsinhalte Setzungen. Sie erlauben uns über diese, unsere lieb gewonnenen Illusionen aufrecht zu erhalten. Indem wir Unerklärliches mit Begriffen wie Gott, Seele oder Idee belegen, füllen wir die Lücken in unseren Orientierungssystemen. Besonders über den Gottesbegriff füllt man gerne persönliche und soziale Bedürfnisse aus.

Vielleicht sind die Inhalte all der Setzungen in den Religionen oder Ideologien inhaltlich oft gar nicht so wichtig, sondern unter einander austauschbar. Sie geben ihren jeweiligen Anhängern in ihrer persönlichen Orientierung eine Mitte und deren einzelnen Vertretern die Möglichkeit, sich mit einer Gruppe zu identifizieren.

Philosophische Gedanken sind immer nur hypothetische Ideen. Ihr Problem ist, dass sie immer auf dem Hintergrund eines vorgesetzten Menschenbildes erfolgen, d.h., auch auf einer bereits erfolgten sozialen Setzung. Das gilt auch für alle ethischen Aussagen, auf denen sich unsere Kultursysteme aufbauen, für alle wissenschaftlichen Aussagen, – unabhängig davon ob sie rational begründet werden oder nicht -, sie besitzen alle in ihrem Hintergrund nicht hinterfragte, bzw. irrationale Setzungen. So wird in der modernen Physik wieder ernsthaft der Dualismus von Materie und Geist diskutiert, einer philosophischen Thematik, die die Philosophie seit Anbeginn beschäftigt und deren Diskussion zurzeit von der Quantenphysik neu belebt wurde.

Bei all diesen Überlegungen und dem Setzen von persönlichen Lebensprioritäten verdrängen wir oft deren Banalität bezogen auf das große Universum. Indem wir unsere zeitlich kurze Endlichkeit aus unserem Bewusstsein unterdrücken, überhöhen wir zugleich unsere Existenz auf eine in der Realität nicht vorhandenen Bedeutung.