24.1 Setzungen, Gedanken
- Nachdem der Mensch durch seine Entfremdung von der Natur das Paradies verloren hat, zielen alle seine Bemühungen darauf, es zurückzugewinnen. Als teilrationales Wesen bleibt ihm dafür emotional nur die Sehnsucht oder intellektuell die Utopie.
- Großkulturen können langfristig nur auf der Grundlage rationaler „Ordnungen“ bestehen. Das Problem sind der Hintergrund und das „Gleichgewicht“ deren Ableitungen, d.h. die Balance zwischen den biologischen und den humanen Voraussetzungen des Menschen. Es besteht heute der Anschein, dass langfristig im Rahmen seiner zukünftigen Evolution seine biologische Existenz nur über die Ausweitung seiner humanen Grundorientierungen gesichert werden kann.
- Wenn es so ist, dass das limbische System im Menschen nicht nur für seine Fähigkeit zu „Liebe“, sondern auch für seine Fähigkeit Zukunftsprojektionen entwickeln zu können verantwortlich ist, dann kann aus der Verbindung dieser beiden Fähigkeiten in einem Organ sich vielleicht auch eine Chance für eine Zukunft des „alten“ Menschen erhoffen lassen.
- Während die Bereitschaft des Menschen zur Nachwuchspflege biologisch seine positiven Werte verstärkt, werden diese durch seine Aggressionsneigung geschwächt. Da er inzwischen in seinem immer enger werdenden Lebensraum und dem technischen Stand seiner Zivilisation bis an die Grenzen seiner Selbstzerstörung gelangt ist und dieser Gefahr nur rational begegnen kann, bleibt ihm nur die Möglichkeit, seine Fähigkeit zur „Liebe“ zum tragenden Wert seiner Kultur zu machen, d.h. sozial das „Humane“.
- Das Humane verwirklicht sich im Sozialen. Nur so kann es zum tragenden Element einer Kultur werden. Es grenzt die biologische Natur eines Individuums im Sinne einer „positiven“ Ethik ein. Es setzt sich für das „Schwache“, „Unzulängliche“ ein und von verschiedenen Vorgaben der menschlichen Natur im Sinne deren Kultivierung ab. Hierher gehören einerseits das geschlechtlich gesteuerte Wettbewerbsbewusstsein , d.h. das Leistungsdenken und der Aggressionstrieb und hierher gehören andererseits die Akzeptanz des menschlich Unzulänglichen. D.h., das Humane zielt auf das spezifisch Menschliche.
- Das Humane ist ein ethisch verstandener Altruismus. Es umfasst das Wissen um das mögliche Leid des Menschen, die Fähigkeit zum Mit-Leid und die aktive Reaktion im Handeln, d.h., es umfasst die Mitmenschlichkeit und das Vermögen Liebe zu geben. Die Kriterien für das Humane sind die Toleranz, die Grundbedürfnisse des Menschen nach Zuwendung und das Postulat seiner Gleichheit im Sinne deren Befriedigung.
- Das Humane ist an eine Begrenzung der persönlichen Freiheiten eines Menschen gebunden, den Versuch seine inneren „Kräfte“ so zu beherrschen, dass er als soziales Wesen nicht „maßlos“ wird. D.h., zum Humanen gehört eine „positive Setzung“ in deren Dienst er seine Freiheit setzt. Ein humanes Sein bedeutet eine Selbstbeschränkung, es bedeutet die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung.
- Das Humane wird von einer Anerkennung der persönlichen Grenzen, dem Sehen der eigenen Existenz in einer den Menschen übergreifenden Ganzheit bestimmt und einer positiven Haltung diesen beiden Gegebenheiten gegenüber. Die bewusstseinsmässige Akzeptanz des Unzulänglichen und des Irrationalen bedeutet einen wesentlichen Verlust einer Seite des Menschlichen.
- Die Rationalisierung unserer Welt verläuft parallel zu ihrer Enthumanisierung, wenn ein gewisser Schwellenwert überschritten wird. Sie bedeutet eine Entmündigung des Menschen, seine Unterwerfung unter ein formales Gesetz. Die Hochleistungen seiner Zivilisation bezahlt er dann mit dem Verlust seines ihm gemäßen „Maßes“, seiner Mitmenschlichkeit. Und oft hat sein Bewusstsein das Leid der anderen, – die seine Bequemlichkeit erst ermöglichen -, bereits so weit verdrängt, dass er gar nicht mehr fähig ist, es zu sehen.
- Die Hölle auf Erden, das ist der Mensch, und in der Regel immer der andere. Aber, durch die Hölle wird erst der Mensch zum Menschen, entsteht das Spannungsfeld seiner geistigen Fruchtbarkeit. Andererseits muss er sich, weil es so ist, sozial vor sich selber, seinen eigenen Egoismen schützen.
- Eine menschliche Gesellschaft ist von der biologischen Vorgabe ihres genetischen Potentials her eine hierarchische Gesellschaft. Die dadurch fehlende „Harmonie“ in den Strukturen, der Kampf – besonders ihrer männlichen Mitglieder – um Statuspositionen, ist die innere Voraussetzung für deren Weiterentwicklung. Die um Rangplätze ausgetragenen Konflikte stellen den inneren Motor unserer Kulturen dar. Der Mensch braucht sie, wie er seine Unvollkommenheit braucht, um eine Chance zu behalten, Hoffnungsperspektiven zu entwickeln. Seine Schwäche macht auch seine Stärke aus. Der Verlust der Angst der Sensiblen in einer Überflussgesellschaft vor der Zukunft wäre sozial das Bedrohendste, das dem Menschen passieren könnte.
- Die beiden Hauptprobleme des modernen Menschen sind, dass sein Bewusstsein den Umfang seiner Kultur nicht mehr erfassen und damit nicht mehr kontrollieren kann und dass die ihn erfassende, „pluralistische“ Gesellschaft aus einer Summe vereinzelter Individuen besteht, die keinen gemeinsamen Konsens mehr besitzen. D.h., dass die bestehende Kultur in ihren menschenfeindlichen, mathematisch-rationalisierten Dogmen sich kontrollos verselbständigen kann und die Menschheit ihr im Augenblick hilflos ausgeliefert ist. Liebgewonnene Privilegien und wirtschaftliche Machtinteressen werden ein notwendiges Umdenken zu verhindern versuchen.
- Ein Handeln schafft immer Schuld. Das Humane weist uns einen Weg, damit umzugehen. Der Verlust des Ganzheitsbezuges und damit der Verlust des Religiösen wurde ersetzt durch rationale Setzungen und eine positivistische Ethik. D.h., der Verlust des Paradieses wurde ersetzt durch ein schicksalhaftes Schuldig-werden-müssen des menschlichen Bewusstseins. Das „Versagen“ wird zu seiner Bestimmung. Die Möglichkeit, diese Grenzen zu akzeptieren und neue Chancen der Verantwortungsübernahem sozial zu organisieren, macht die neue Humanität aus.
(Gleichzeitig bleibt der Mensch für sein Bewusstsein, das was er ist, unvollkommen. Es ist ein Aspekt unserer Leistungsgesellschaft, dass er dies zu verdrängen sucht).
- Das Sein erhält seinen Wert durch einen Sinn. Der Sinn erhält seine Bedeutung durch den „Preis“ den man dafür bezahlt, durch die Entbehrungen, Beschränkungen. Es gibt keinen Sinn ohne einen Verzicht, wie es kein menschliches Sein ohne eine Grenze gibt. Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet von einem zunehmenden Wunsch nach Selbstbestimmung ihrer Mitglieder bei einer gleichzeitigen Angst vor Orientierungslosigkeit, d.h. einer fehlenden Kenntnis ihres „Sinnes“. Der Mangel an Orientierungsvorgaben hat dazu geführt, dass der Konsum zum höchsten Gradmesser für Status und Lebensqualität geworden ist. Das Humane verlor seinen Stellenwert und die Beziehungen der Menschen untereinander wurden in unserer Kultur „kalt“.
- Die Welt ist für den einzelnen Menschen immer nur das, was er an persönlicher Substanz in sie einbringt. Eine konsumierte Welt kann deshalb immer nur ein Vorbeiflug sein. Nur eine innere Auseinandersetzung, die Beschäftigung mit ihr, erst eine Erarbeitung würde zu deren „Besitz“ führen. Da wir in unseren Schulen aus einer hedonistischen Grundideologie heraus dazu nicht mehr erziehen, wird dieser Besitz auch nicht vermisst. Das Humane ist aber auf einen geistigen Besitz angewiesen.(Da es sich evtl. auch gegen Teile der „Natur“ des Menschen stellen muss, ihm erst die Kraft dazu bietet). Es ist letztlich eine aus einer inneren Arbeit heraus gewonnene Erkenntnis, ein Reifungsergebnis.
- Durch die Vereinzelung im Spezialistentum und der Fülle des Gesamtwissens unserer Kultur haben wir die Übersicht über unsere zivilisatorische Entwicklung verloren, sei es in der Kernenergie, der Gentechnologie, den Kommunikationswissenschaften bis hin zur technischen Intelligenz oder den Eingriffen in die ökologischen Systeme. Das, was uns fehlt, ist ein ethisches Orientierungsmodell, das als Setzung des Menschen aktiv handlungsfähig agieren lässt. Die Entwicklung unserer Wirtschaft und damit unsere gesamten Lebensvoraussetzungen verlaufen in einem Prozess, der einer neuen Grundorientierung bedarf.
- Bedingt durch unsere Lebensansprüche ist und bleibt unsere Gesellschaft eine Risikogesellschaft, die alle ihre Mitglieder sozial zu tragen haben. Auf Grund dieses Umstandes muss es Vorgaben geben, die vor denen ihrer einzelnen Mitglieder stehen, d.h. Vorgaben, die z.B. einen Missbrauch der Naturbelastung verhindern. Das wäre zunächst die Verantwortung eines jeden für das „Ganze“ seiner Umwelt, bzw. deren bewusstseinsmässige Einbindung in einen ethischen Metakonsens, einem allgemeinen Konsens über die Stellung des Humanen.
- Aus der Erfahrung einer „Ganzheit“ erwächst dem Menschen für diese die Verantwortung. Das „neue“ Gefühl gegenüber der Natur findet seinen Ausdruck darin, dass er seine bewusstseinsmässige Vorrangstellung aufgibt und sich wieder als Glied in ihren Kreislauf stellt. Der einzelne übernimmt aus seinen neuen normativen Setzungen heraus freiwillig eine Verantwortung für den anderen, den „Schwächeren“, das Gemeinwesen. Dabei wächst er über seine biologische Natur hinaus. Seine „Leistung“ liegt in der Überwindung seines egozentrischen Standortes. Human leben bedeutet, in „Verantwortung“ mit den dem Subjekt gegenüberstehenden Objekten, Gegenständen, Inhalten umzugehen, als Mensch sich aus einer moralischen Mitte heraus handelnd einzubringen.
- Eine Existenz hat immer eine doppelte Dimension. Sie ist einerseits Schicksal, sein im Sein, eine vom Subjekt unabhängige Gegebenheit, andererseits ist sie dessen Annahme durch das Ich. Erst durch sein bewusstes Agieren beginnt das Subjekt im Sinne des Humanen zu existieren. Sein Schicksal ist ihm über seinen Standort vorgegeben. Seine einzige Chance liegt im Setzen einer arterhaltenden Utopie, d.h. einer humanen Hoffnung. Ist sie als solche nur eine unrealistische Setzung gegen die Evolution, dann gibt es kein sachliches Argument am Menschsein festzuhalten. Das Überleben des Menschen hängt von dessen Bereitschaft ab, sich bewusstseinsmässig aus seiner „über-natürlichen“ Stellung wieder hinunter in die Natur einzugliedern. Die Naturerhaltung, die „Erhaltung des Schwächeren“ wird zu einer Frage seiner Selbsterhaltung.
- So ohnmächtig der Mensch in seiner determinierten Welt auch erscheinen mag, so hat er doch die Möglichkeit die Energie seines Standortes, im Rahmen seines bewusstseinsmässigen Spielraumes einzusetzen. D.h., er hat die Möglichkeit eines begrenzten Willens, der als ein immer stärker wachsender Konsens zu einem Metawillen werden kann, zunächst den einer kleinen Gruppe, dann einer Großgruppe und zuletzt einer, der die ganze Menschheit umfassen kann. Dieser Wille, diese Energieorientierung muss etwas zu ihrem zentralen Inhalt haben, das der Mensch als Ideal nur über seine Selbstdisziplinierung bei gleichzeitiger geistiger Unabhängigkeit gegenüber seiner rationalen Welt erreichen kann. Er muss sein Ich überwinden, um es zu leben. Er muss es beherrschen, um es zu befreien. Nur so erhält er eine über den einleitenden Anfang der geistigen Evolution hinausführende Berechtigung seiner Existenz, seine neue Chance.
- Eine humane Gesellschaft hängt letztlich davon ab, wie es gelingt, hedonistische Egoismen durch soziale Zielsetzungen zu überlagern, um als Teil der Natur mit der Natur in Einklang leben zu können, um in einer Umkehrung eines Rechtes auf „Da-Sein“, bereitzusein als persönliche Grundorientierung Verantwortung zu tragen.
- Die Chance des einzelnen Menschen ist es, Fehler machen zu dürfen. Jede „reifende“ Person bedarf zu ihrer „Vollendung“ der Negation, der Ablehnung, des Widerstandes. Jede Krise bedeutet eine neue Chance. Sie ist die Voraussetzung für das „subjektive Erwachen“. Ohne zu leiden, können wir kein „Mensch“ werden. Sie ist eine wesentliche Grundlage unserer Formung. Als Ergebnis ist ein menschliches Sein in seiner höchsten Reife, Rücknahme, Einfachheit, Demut.
- Die Stärken des Menschen liegen in seinen Grenzen. Das „Humane“ beschreibt den Entwurf einer Utopie, der eine „glückliche“ Menschheit im Auge hat. Ihr Paradox ist, dass sie als solche auf den gebrochenen, leidenden Menschen angewiesen ist und daraus ihre Berechtigung ableitet. Zu leben bedeutet, einen Traum zu verwirklichen, einen Traum zu verwirklichen zwischen dem Kaputtgemachtwerden und der verbliebenen Kraft. Das Humane bietet dem Menschen die Chance „Gott“, das „Paradies“ zu finden als einer Summe aller positiven Setzungen. Sie ist wahrscheinlich seine einzige.