14.1 Setzungen, Gedanken
- Der Wahrnehmungsapparat, die Sinne des Menschen sind das Evolutionsergebnis einer biologischen Zweckmäßigkeit. Sie sind auf die tägliche Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur hin angelegt und ermöglichen ein Zurechtfinden in der Alltagsbegegnung. Diese Orientierung erfolgt nur insoweit, wie sie für die Selbst- und Arterhaltung notwendig ist.
Die Struktur seiner Sinnesorgane und die Art der Reize auf die sie programmiert sind, sind die Grenzen der menschlichen Welt. Sie vermitteln ihm kein Bild dieser Welt sondern nur deren Verkürzung im Sinne seiner biologischen und sozialen Vorgaben. Er ist ihr Gefangener. Seine „Wirklichkeit“ ist eine Wirklichkeit aus dem Blickfeld einer begrenzten und gefilterten Perspektive.
Je weiter er geistig in Bereiche außerhalb seiner unmittelbaren Wahrnehmungswelt, dem Mikro-, Makro- und Megakosmos, eindringt, um so mehr versagt er in seinem sinnlichen Fassungsvermögen. Seine „Objektivität“ wird dann weniger genetisch sondern sozial bestimmt. Hypothetische Annahmen werden zur Grundlage seines Welt-„Bildes“.
- Die menschlichen Sinne bestimmen den Inhalt seiner Gedanken und seine Gedanken bestimmen die Inhalte seiner Sinne. Wo immer der Mensch auch ansetzt, er ist immer nur er, ein Standort mit einem ihm vorgegebenen Rahmen. Dieser bestimmt sein Blickfeld und sein Bewusstsein.
Mit Hilfe seiner Sinne „weiß“ der Mensch,
- dass es außer ihm noch eine andere Welt gibt.
- dass diese Welt wahrnehmungsmässig in mannigfaltigen Erscheinungen auftreten kann.
- dass viele Menschen relativ ähnliche (nicht identische) Wahrnehmungen haben.
Aus Erfahrung weiß er aber auch,- dass seine Sinne sich täuschen können.
- dass ihm viele Bereiche der Mannigfaltigkeit dieser Welt – im Vergleich zu anderen Lebewesen – wahrnehmungsmässig verborgen bleiben.
- dass seine Sinnesorgane geschichtlich „Gewordene“ sind.
- dass seine Wahrnehmungen im Hirn ideologisch „verarbeitet“ werden.
- dass diese Verarbeitung ihren Ausdruck in einem sehr sensiblen biochemischen Prozess des Hirnstoffwechsel findet.
Er weiß weiter,- dass sein „Nichtwissen“ dazu missbraucht wird, hinter seiner biologischen Welt eine für den Menschen besondere metaphysische aufzubauen.
- dass andere Vorstellungen von der Welt im Rahmen einer spezifischen sozialen Selektion oft mit Terror unterdrückt und vereinheitlicht wurden und er selber der Erbe einer solchen Vergangenheit ist.
- Jede Wahrnehmung ist funktional auf eine Daseinssicherung ausgerichtet und damit standortgebunden. Ihre Bezugswelt ist das vordergründig Stoffliche der Erscheinungen. D.h. der Mensch orientiert sich an seinen Setzungen von der Welt. Die sinnlichen Ansprüche seiner Zivilisation werden begleitet von einer Degeneration seiner Wahrnehmungsfähigkeit in der Natur, d.h. der Reizwelt, für die sein biochemischer Stoffwechsel einmal geschaffen worden ist.
Jede Wahrnehmung erfolgt auf dem Hintergrund einer Interpretation der Welt und ist selber zugleich eine solche. Sie wird psycho-sozial gesteuert und findet über den durch sie beeinflussten Stoffwechsel ihren Ausdruck in dem psychischen Zugang zur Welt.
Wahrnehmungen, Erkennen und Existenz sind immer zunächst nur subjektiv. „Objektivität“ ist immer nur eine abstrakte Fiktion. Die „Realität“ steht unabhängig von ihr. Die „Anschaulichkeit“ unserer Welt ist letztlich nichts anderes als deren Beschränkung auf die Dimensionen des Menschen.
- Die Grenzen seiner Wahrnehmungsfähigkeit schaffen dem Menschen seine Welt. Sie stecken die Weite seines Dialoges zwischen (bewusstem) Subjekt und Objekt ab. Durch ihre Grenzen machen sie die Welt erst zu seiner „Realität“. Sie geben ihr ihre Konturen und ihre Farbigkeit. In seiner Begrenztheit liegt das Geheimnis des menschlichen „Reichtums“.
Der Verlust seiner inneren Beziehung zur Natur bescherte dem Menschen eine Ersatzwelt in Form seiner Abstraktionen. Das Schema ersetzte den Gegenstand, die mathematische Struktur wurde über die Technik zu seiner Alltagsrealität. Eine neue Auslese des Menschen findet in Hinblick auf seine technische Verwendbarkeit statt. Die Zivilisation braucht nicht mehr den sinnenmäßig „gesunden“, ganzheitlich auf die Wahrnehmungen in der Natur bezogenen Menschen. Sie braucht den von der Technik benötigten Spezialisten. „Sachzwänge“ werden eines Tages die Menschheit dazu zwingen, gentechnisch ihre heutigen „Mängel“ im Sinne der Erfordernisse einer zukünftigen Welt zu überwinden.
- Eine „Realität“ ergibt sich aus einer genetisch programmierten Wahrnehmung der Umwelt, eingebracht in sozial vorgegebene Strukturen, individuell reduziert. Sie ist dasjenige, was für den Menschen ist, ausgedrückt als nachvollziehbare Erfahrung gegenüber einer Umwelt. Bewusstseinsmässig ist sie für ihn der Ausdruck seiner Wirklichkeit (dabei ist sie nur ein Spiegelbild seiner Kultur). Jede Wirklichkeit ist gleichzeitig ein Konsens, eine „Realität-an-sich“, ein Gottesbezug, ein Absolutes.
Eine Realität ergibt sich aus einer Identität zwischen Setzung und Wahrnehmung. Sie ist bewusstseinsmässig der Ausdruck eines Selbstbetruges des Subjekts. Der Mensch passt sein Selbstbild nicht der „Außenwelt“ an, sondern die Sicht der Außenwelt seinem Selbstbild. Die Realität ist immer eine Perspektive, wird immer aus einer solchen heraus definiert. Die „reale Existenz“ ist das durch eine Kultur in ein Bewusstsein gehobene Objekt. Sie ist die „anschauliche“ Existenz eines Gegenstandes und auf ihre Weise der Ausdruck eines Urbildes, eines Seins im Allgemeinen, einer Idee, des „Gesetzes“.
- Der Wahrnehmende ist der Gott seiner Realitäten. Er schafft sie sich aus einer Summe von Informationen und konstruiert sich eine „Ganzheit“ der stofflichen Welt, bzw. als Ausdruck der Bewegung ein Spiel der Kräfte zwischen den Objekten. Die „Realität“ ist der Ausdruck einer Interessenlage.
Eine Realität ist immer subjektiv. Sie ist das Ergebnis eines „Bewusstseins“, d.h. einer subjektiven Beziehung gegenüber der Umwelt. Dem gegenüber steht die Realität als Konsens. Sie ist ein gesellschaftlicher, allgemeiner Annäherungswert auf dem jede Kultur ruht. Sollte die subjektive Realität von der Konsensrealität zu stark abweichen, so ist im Verständnis der Gesellschaft ein Individuum psychisch krank.
Eine Realität ist,
- eine sozial bestimmte Interpretation der Objekte.
- die Welt der Strukturen, denen die Rationalität folgt.
- das Sein, das in allem Da-Sein identisch ist und in seinen Erscheinungsformen nur wechselt.
- Unsere Erfahrung beruht auf Sinnesdaten, für die wir durch unsere Kultur „aufgeschlossen“ worden sind. Sie basiert auf einem Gefühl der Stabilität unserer Welt im Sinne einer Gesetzmäßigkeit und ist immer objekt-, handlungs- und sprachgebunden. Sie verkörpert eine persönliche Orientierung auf dem Hintergrund unmittelbarer Kontakte.
Eine Erfahrung ist der Ausdruck einer subjektiven Auseinandersetzung mit der „Umwelt“ und damit im eigentlichen Sinne nie „wahr“. Mit Begriffen belegt, sozial vermittelbar, wird sie zusätzlich abstrahiert und verfremdet. Der Verlust einer unmittelbaren Erfahrung eines Objektes durch ein Subjekt erlaubt nur noch ein Leben in einer „objektiven“ Ersatzwelt, einer Welt sozialer Setzungen, die der Berufe, Wissenschaften, die einer Kultur. Selbst erkannte Täuschungen bekommen dann für die Orientierung eines Subjekts Realitätscharakter (z.B. im sozialen Bereich).
- Jeder Mensch bedarf einer Orientierung. Sie wird ihm sozial über eine Ideologie vorgegeben (z.B. Religion, Wissenschaft, Sitten und Gesetze) und daraus abgeleiteten sozialen oder individuellen Träumen, d.h. Vorstellungen, die oft realitätsfremd in einer fremden Umwelt die psychischen Bedürfnisse der Betroffenen abzudecken versuchen (z.B. die Sehnsucht nach Anerkennung, Geborgenheit).
Die Art der Wahrnehmung von Reizen wird weitgehend von einer Motivation bestimmt, einer Motivation, die stark von sozialen Faktoren wie Stellung, Fertigkeiten und Wissen und der Sensibilisierung der Intelligenz abhängig ist. Letztlich wird sie davon bestimmt, was für Inhalte für eine Selbsterhaltung, – auch psychische aus der Perspektive eines Selbstwertbewusstseins -, als wichtig erscheinen.
Die Welt des menschlichen Bewusstseins ist die Welt seiner Wahrnehmungen. Die Welt seiner Wahrnehmungen ist eine Welt primär sozialer Ausrichtung. Ein Mensch registriert nur dasjenige, was ihm bedeutsam erscheint.
- Jede dem Menschen zugängliche Information wird kulturabhängig gewichtet, d.h., sie ist von vornherein in ihrer inhaltlichen Zuordnung determiniert. Zur Kenntnis genommen kann nur etwas werden, was einen zugesprochenen „Wert“ besitzt. Die denkbaren Alternativen eines Lebens werden durch das soziale Umfeld an das es gebunden ist, auf dessen Normen reduziert.
Vor jedem Verstehen steht ein Glaube. Er ist jeder rationalen Aussage in deren inhaltlichen Zuordnung, ihren Begriffen, Symbolen und deren Zusammenspiel vorangestellt. Struktur und Anschauung schaffen die Inhalte unseres Bewusstseins. Letztere wird weitgehend von ganzheitlichen, evolutionsabhängigen Vorgaben und der Erfahrung vorbestimmt, das Strukturbewusstsein dagegen von gerichteten Vorgaben und der Kulturevolution, in die der Mensch hineingeboren wurde.
Erst das Bewusstsein schafft das Sein. Es steuert die menschliche Wahrnehmungen, seine Projektionen. Es schafft ihm ein Bild für seine Vorstellungen. Nur nähert er sich damit nicht einem Objekt, sondern er unterwirft es sich. (So gesehen führt der Weg zur „Wahrheit“ als einem Kriterium eines „bewussten“ Bezuges zur Umwelt nur über die Meditation).
- Der Mensch sieht nur dasjenige, was er kennt, was er erwartet. Die Welt eines „Kranken“ ist eine andere als die eines „Gesunden“. Jeder hat einen anderen Entwurf von ihr. Das „Normale“ ist nur eine mittlere Norm, Ideale sind nur höchste Orientierungssetzungen.
Ein Bewusstsein kann eine Welt nur insoweit erfassen, wie es biologisch dafür angelegt ist. Es ist die wichtigste Grenze eines Menschen. Die Enge einer Welt wird bestimmt von der Enge eines Bewusstseins. Aus ihr sieht der einzelne verstärkt die geistigen Grenzen des anderen. Oft ist es jedoch die Enge des eigenen Bewusstseins, die dem anderen nicht gerecht zu werden vermag.
- Unser Bewusstsein bestimmt die Art und Richtung der Gedanken. Es wird selber weitgehend von unserem Stoffwechsel bestimmt. D.h., die von uns wahrgenommene Umwelt ist das Ergebnis der biochemischen Abläufe in unseren Zellen und damit auch ein Ergebnis unserer Stimmungen.
Andererseits täuscht das Bewusstsein uns darüber hinweg, dass unser Körper bereits lange vor dieses auf Reize reagiert hat, bevor es selber in seinen Reaktionen folgt. Der einzelne Mensch glaubt, dass seine Handlungen seinen Überlegungen folgen. Das ist aber eine Selbsttäuschung. Körperliche Reaktionen sind viel schneller. Das Bewusstsein folgt ihnen nach und in einer Art Selbstbetrug setzt es sich dann selber an die Spitze der Reaktion.
- Die Reduktion des Bewusstseins auf die „Realität“ naturbezogener Setzungen verkürzt die Erfahrungswelt des Menschen , seinen Orientierungsspielraum auf seine „Kulturwelt“. Da er in ihr über einen unmittelbaren Naturkontakt nicht mehr verfügt, lebt er mit einer „Realität aus zweiter Hand“ und damit auch mit einem Lebensprogramm aus zweiter Hand.