Philosophischer Naturalismus

Mit der Verwissenschaftlichung unserer Existenz kommen in der Gesellschaft zunehmend naturalistische Betrachtungsweisen verstärkt zum Tragen. Nachdem die Physik zu Beginn des 20. Jhs. mit der Relativitäts- und der Quantentheorie neue Voraussetzungen geschaffen hatten (Einstein, Heisenberg), haben heute die Biologie (die Evolutions-, Erbgut- und Hirnforschung) und die Informatik die wissenschaftliche Führungsrolle übernommen. Mit der Zunahme der menschlichen Verfügungsgewalt über die Natur nähern wir uns langsam einer Situation, in der wir uns genetisch selber verändern oder mit technischen Teilen verbinden können und damit uns als historische Evolutionserscheinung selber ablösen können.

Einstein, Albert (1879 – 1955):
Er schuf die Voraussetzungen für unser heutiges physikalisches Weltbild. Seine Erkenntnisse revolutionierten unser Naturverständnis. Von ihm stammen u.a. die

  • spezielle Relativitätstheorie (1905):
  • allgemeine Relativitätstheorie:
  • Erkenntnisse zur Quantenphysik (u.a. die Erklärung des photoelektrischen Effekts):
  • Einheitliche Feldtheorie:

Wie viele andere bedeutende Physiker beschäftigte sich Einstein auch mit philosophischen und religiösen Fragen. Er stand politisch einem Sozialismus nahe, in dem man die Rechte eines Individuums respektierte. Über Gott sagte er: „Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott und habe dies niemals geleugnet, …. Falls es in mir etwas gibt, was man religiös nennen könnte, so ist es eine unbegrenzte Bewunderung der Struktur der Welt, soweit sie unsere Wissenschaft enthüllen kann“.

Heisenberg, Werner (1901 – 1976):
Er stellte für die Quantenmechanik deren „Unschärferelation“ fest, nach der Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons nicht zugleich messbar seien. Ist seine Geschwindigkeit bekannt, dann ist es nicht sein Ort. Oder umgekehrt, ist sein Ort bekannt, dann ist es nicht seine Geschwindigkeit. D.h., dass zwei Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig genau bestimmt werden können. Während nach der klassischen Physik die dortigen Größen exakt messbar sind, ist dies in der Quantenmechanik nicht der Fall. Dieser Umstand bedeutete, dass die Aussagen der klassischen Physik, ihr Kausalgesetz, nach der jede Aussage über die Natur möglich sei, letztlich nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. Sie können auch nur wahrscheinlich sein. Dieser Umstand zeigte eine neue Grenze des menschlichen Erkenntnisvermögens über das Ganze der Natur. Es wird letztlich über sie nie eine völlige Klarheit geben. Die Erhaltung der Materie folgt nicht dem Kausalprinzip. Für Kant war dieser Bereich „a priori“. Wir benutzen zwar weiter noch unsere klassischen Begriffe, aber ihre Anwendbarkeit ist in ihrer letzten Konsequenz ungenau.

Nach Heisenberg nimmt die Physik sowohl Einfluss auf die Technik wie auf unsere Sicht der Welt. Während die Gedanken in den Geisteswissenschaften ihre Verbreitung weitgehend nur in ihren Traditionsbereichen erleben, seien die der Naturwissenschaften dagegen global. Eine vollständige Objektivität sei für den Menschen als Wesen der mittleren Dimension nicht möglich. Es gäbe einen Unterschied zwischen Intersubjektivität und Objektivität. So lässt sich ein „Quant“ zwar berechnen, seine Beobachtung bleibt aber zufällig, subjektiv. Die Quantenphysik entscheide experimentell über eine philosophische Frage (z.B. über Realitäten, die Subjekt-Objekt-Problematik). Ein Problem stelle die Übersetzung aus der Wissenschaftssprache in die Alltagssprache dar. Ein „Quant“ sei genau genommen weder ein Teilchen (= ein lokalisierbares Objekt) noch eine Welle. Dies seien nur halbwegs passende Bilder aus der Alltagssprache, die keine sinnvollen Schlüsse erlauben würden. Erfassbar sei es allein über ein mathematisches Kalkül (Regelsystem). Nur die Naturwissenschaften führten zu einem konsensfähigen, intersubjektiven Wissen. Ihre Grundfragen seien auch immer die der Philosophie.

Dürr, Hans-Peter (1929 – 2014):
Er war der engste Mitarbeiter Heisenbergs bei dessen Versuch eine einheitliche Feldtheorie der Elementarteilchen (= Zusammenfassung der klassischen Feldtheorien und der Quantenfeldtheorie) aufzustellen und von 1978 – 1997 Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik. Er wird heute gerne als Visionär gesehen oder auch als Esoteriker abgetan, da er sich im Alter verstärkt erkenntnistheoretischen und gesellschaftspolitischen Fragen zugewandt hatte.

Dürr vertrat auf der Grundlage der Quantentheorie eine neue Vorstellung von unserer Wirklichkeit. Die von uns beobachtbare Unschärfe der Quanten sei ein Ausdruck des Lebendigen, dem ein universeller Code als Information zugrunde läge. Was wir als Materie erlebten, sei deren „Bewusstsein“. Wir Menschen könnten zuerst nur in Substanzen denken, die wir dann in Beziehungsstrukturen brächten. Es käme aber auf das „Dazwischen“ an. In der Quantenphysik sollten wir weniger über Substantive, sondern verstärkt über Verben denken. Unser Gehirn sei auf eine solche Denkweise nicht trainiert. In der Natur hätten wir keine zweiwertige Ja-Nein-Logik sondern ein mehrwertige Logik, ein Sowohl/Als-auch, ein Dazwischen. So gäbe es genau genommen gar kein Elektron. Wir könnten es nur als Wirklichkeit benennen, die etwas auslöst. Die alten Naturwissenschaften sahen die Realität (für unseren Alltag ausreichend) als eine Welt der Objekte an. Sie beschrieben ein mechanisches Weltbild. Die neue Physik beschreibe dagegen die Wirklichkeit als eine Kann-Möglichkeit, in der die Welt auf verschiedene Art materiell-energetisch verkörpert sei. Die Felder der Quantenphysik seien immateriell und wirkten über den dreidimensionalen Raum hinaus. Sie seien reine Informationsfelder, die sich sowohl in mir wie im ganzen Universum befänden. Der Kosmos sei ohne Begrenzung ein Ganzes, in dem sich seine Erscheinungs- formen als Unterschiedliches für unsere Aufmerksamkeit und damit unsere Artikulation ausdifferenzierten. Die alte mechanistische Physik unterschied mit ihren determinierenden Naturgesetzen nicht zwischen belebt und unbelebt. Lebendige Systeme wurden als instabile System, die auf eine ständige Energiezufuhr angewiesen seien, damit aber nur begrenzt erfasst. Wir sind Teil eines größeren geistigen Ganzen und nur in unserer Diesseitigkeit als Materie greifbar. Nur die geht nach unserem Tod verloren, während unser Sein in den geistigen Quantenfeldern erhalten bleibe.
(nach einem Interview im „P.M Magazin“ 05/2007)

Vorgeworfen wird Dürr gelegentlich ein „wissenschaftliche Seriosität vortäuschendes metaphysisch-spekulatives Geschwafel“, seine intuitiv- spekulative Betrachtung des „Ganzen“ in seiner Totalität. Er entziehe sich damit einer kritisch-rationalen Auseinandersetzung mit seinen Denkansätzen.

Kuhn, Thomas Samuel (1922 – 1996):
Kuhn war ein Wissenschaftsphilosoph, der die Wissenschaften als eine Folge von wissenschaftlichem Alltagsgeschehen und wissenschaftlichen Revolutionen, von Paradigmen und Paradigmenwechsel beschrieb. Dabei waren Paradigmen für ihn die wissenschaftlichen Leitsätze, Fragestellungen und Methoden einer Epoche und ein Paradigmenwechsel deren Ersetzen durch neue Wissenschaftsverständnisse und neue Wissenschaftsmethoden. Sie seien das Ergebnis wissenschaftlicher Grundlagenkrisen. Später verwarf er diese Begriffe weitgehend, weil sie ihm zu unpräzise erschienen.

In seinen ersten Schriften waren Paradigma für Kuhn „konkrete Problemlösungen, die die Fachwelt akzeptierte“. Später gehörte für ihn dazu alles, worüber in einer Wissenschaft ein Konsens bestand und danach auch deren Einzelelemente, die aus diesem Bereich zur Lösung einzelner Probleme beitragen konnten. Paradigmen waren für ihn ein Ergebnis einst konkurrierender Ansichten und jetzt ein Ausdruck reifer Wissenschaftlichkeit. Er unterschied für deren Entwicklung

  • eine vorparadigmatische Phase,
  • eine Phase der Normalwissenschaften (und in deren Folge),
  • eine revolutionäre Phase.

Während der Präsens der Normalwissenschaften würden die bestehenden Probleme mit Hilfe der bestehenden Lösungsregeln eingeschränkt und die Forschung ginge in die Tiefe. Wenn nun mit den vorhandenen Regeln den Hauptproblemen nicht mehr begegnet werden könne, käme es zu wissenschaftlichen Revolutionen, Paradigmenwechsel. Damit ändere sich die bisherige wissenschaftliche Praxis und das wissenschaftliche Berufsbild. Die Wahrnehmung der Umwelt durch die Wissenschaften ändere sich.

Dabei wandte sich Kuhn gegen die Überlegung, dass der wissenschaftliche Fortschritt das Ergebnis einer Wissensanhäufung sei. Für ihn war er ein Ergebnis von Rücknahmen und Brüchen. Dieses Konzept bezeichnete er als Inkommensurobilität (Nichtmessbarkeit). Die Ursache dafür sei u.a. die inhaltliche Änderung älterer Begriffe und verschiedene, neue Tätigkeitsbereiche. Er wandte sich damit nicht gegen einen rationalen Theorienvergleich, sondern sagte nur, dass er nicht angemessen sei. Kuhn war von einem Fortschritt durch die Wissenschaften überzeugt, doch sah er diesen nicht als Ergebnis eines zielgerichteten Prozesses sondern als eine soziale Konstruktion. Bestehende Gedankenansätze würden von neuen abgelöst.

Gegen ihn und seien inkommensurablen Ansatz wandte man ein, dass er sich damit nicht von nichtwissenschaftlichen Theorien unterscheiden und zu einem totalen Methodenrelativismus führen würde.