Hermeneutik

Die Hermeneutik ist die klassische Methode zur sachgerechten Interpretation von Texten. (Hermeneutik = bezogen auf „Hermes“ der griechischen Vermittler zwischen den Göttern und Menschen). So diente sie bereits im antiken Griechenland u.a. zur Erhellung göttlicher Anweisungen (z.B. denen des Orakels von Delphi). Im Mittelalter und danach bis zur Aufklärung diente sie vor allem der Auslegung von Bibeltexten. Im 19. Jh. wurde sie dann durch Schleiermacher zu einer spezifischen, geisteswissenschaftlichen Methode. Sie wurde zu einer allgemeinen Lehre, sich in ein geistiges Produkt einzufühlen, sich in das Denken eines Verfassers hineinzuversetzen. Der Verstehende sei immer ein Fremder. Im Historismus wurde sie dann zur allgemeinen Grundlage der historischen Geisteswissenschaften. Für Wilhelm Dilthey war sie die Grundwissenschaft jeder geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Mit ihrer Hilfe versuchte er diese von den Naturwissenschaften abzugrenzen. Eine zusätzliche Aufwertung erfuhr sie durch Heidegger. Das „Verstehen“ wurde bei ihm zu einem existentiellen Element des menschlichen Seinsbewusstseins. Der Mensch erfahre durch sie die Grundstrukturen seines Daseins. Nach seiner Auseinandersetzung mit dem Historismus schuf dann dessen Schüler Gadamer die Fundamente für das heutige Hermeneutikverständnis. Ihre Aufgabe sei es, den zeitlichen Abstand zwischen einem Betrachter und einem historischen Gegenstand über ein klärendes Gespräch zu nutzen, dessen subjektive Standortgebundenheit durch eine fruchtbare Begegnung zum Positiven zu wenden und Vorurteile einer Prüfung auszusetzen. Durch das Tun des Subjekts erhalte der Gegenstand der Betrachtung über die Sprache seine Objektivität. Heutige Formen der Hermeneutik bauen die Gadamerschen Ansätze zu „Dialogen zwischen den Zivilisationen“ (Hans Köchler), einer Psychologie des Verstehens oder einer Hermeneutik der Natur aus.

Dilthey, Wilhelm (1833 – 1911):
Ausgehend von der Betrachtung der abendländischen Geschichte wurde er zum Schöpfer der Geisteswissenschaften. Indem er sie von den Naturwissenschaften absetzte, schuf er für diese eigenständige Begründungen und methodische Vorgehensweisen. Alles geisteswissenschaftliche Forschen habe sich auf die Geschichtlichkeit des menschlichen Denkens und Handelns zu berufen. Der Geisteswissenschaftler beziehe sich – anders als in den Naturwissenschaften – auf das vom menschlichen Geist Hervorgebrachte. Die Natur könne man rational erklären, den menschlichen Geist müsse man verstehen. Die menschlichen Leistungen seien die Ergebnisse seines „Seelenlebens“ und nur von dorther zu verstehen. Entscheidend seien die Erfahrungen seines Bewusstseins, die er aus seinen inneren und äußeren Wahrnehmungen ableite. Die Geisteswissenschaften bauten auf deren Erleben, Ausdruck und „Verstehen“. Ein Seelenleben errichte sich als strukturelle Einheit über „Erlebnisse“. Niederschlagen würde es sich als Ausdruck, in Objektivationen äußerer Formen. Das Verstehen sei dann deren Begreifen als ein Nacherleben. Die Gegenstände der Geisteswissenschaften würden aus ihren konkreten Zusammenhängen heraus verstanden. So könnten auch fremde geistige Inhalte in die eigenen einbezogen werden.

Im Alter beschäftigte sich Dilthey besonders mit dem „Leben“ als dem Ausgangspunkt der Philosophie. Nur darauf, als das von innen Bekannte, könne zurückgegangen werden. Seine Sinndeutung erhalte es über die verschiedenen Weltanschauungssysteme (Philosophie, Religion und Kunst). Keine von ihnen sei im Besitz der alleinigen Wahrheit, sondern zeige im Rahmen der menschlichen Denkgrenzen nur Aspekte von dieser.

Eine besondere Bedeutung erlangte Dilthey durch sein Hermeneutikverständnis. Im Sinne Schleiermachers, als eine Form des allgemeinen Verstehens aller Gedanken und Textäußerungen, erweiterte er diesen Ansatz auf alle menschlichen Lebensäußerungen zur Hauptmethode der Geisteswissenschaften. Die Lebensäußerungen seien nur aus ihrem Sinnzusammenhang heraus zu verstehen. Das bedeute, dass jede Feststellung an Vorverständnisse gebunden sei. An diesen Ansatz knüpften später Heidegger und Gadamer.

Dilthey öffnete den Geisteswissenschaften die methodische Möglichkeit sich durch Reflexion in ihre Gegenstände einzufühlen. Zu den jeweiligen historischen Bedingungen seien auch die kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse zu beachten. Alles sei als ein Ganzes miteinander verbunden. Damit wandte er sich gegen das Ideal des Historismus nach einer reinen Beschreibung.

Die „Systeme der Metaphysik“ waren für ihn die „Trümmer der Philosophie“. Sein Ziel war es, letztere wieder zu ihrer Einheit zurückzuführen, sie wieder zur „Philosophie der Philosophie“ zu machen. Die Aufgaben eines Philosophen seien, die ungeklärten Voraussetzungen der Wissenschaften zu untersuchen, den Zusammenhang zwischen ihnen zu klären und sie zu einer Lebensphilosophie zu machen, d.h. aus dem Relativen der Lebensentwürfe das Allgemeingültige herauszuarbeiten. Als „Metaphilosophie“ diene sie dann der Selbstbesinnung, schaffe eine Gesamtschau der Zusammenhänge des Ganzen und ziele auf eine Allgemeingültigkeit. Als Erkenntnis bestimme sie die gesellschaftliche Funktion ihrer Strukturen. Philosophische Systementwürfe seien als Ausdrücke von Weltanschauungen und Grundstimmungen zu verstehen. Sie besäßen alle die gleiche Struktur. Nach einem anfänglichen Ordnen der Dinge entständen weitläufige Sinnstrukturen. Abstrahiert würden diese im Laufe von Generationen zu Weltanschauungen mit obersten Werten und Prinzipien.

Dilthey hatte einen großen Einfluss auf eine ganze Generation deutscher Philosophen gehabt, teilweise in einer kritischen Auseinandersetzung. Abgelehnt wurden

  • seine Einstellung gegenüber der Metaphysik, die er nur als eine Weltanschauung innerhalb von Lebenszusammenhängen sah,
  • seine Vorgehensweise zwischen Natur- und Geisteswissen- schaften zu unterscheiden,
  • seine weitgehende Aufgabe des Objektiven zugunsten des Relativen.

Gadamer hat in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Dilthey unser heutiges Hermeneutikverständnis geschaffen und Heideggers Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) erwuchs „aus der Aneignung der Arbeit Diltheys“. (siehe auch Seite 105).

Gadamer, Hans-Georg (1900 – 2002):
Gadamer war der Begründer einer universalen Hermeneutik. Nach ihm war jedes Verstehen an die Sprachlichkeit des Seins gebunden. Das setze das Bewusstsein der eigenen Vorurteilsstrukturen und die Bereitschaft zu reflexiven Gesprächen voraus. Seine hermeneutischen Betrachtungen konnten auf alle Aspekte und Fragen des menschlichen Lebens bezogen werden. Er schuf damit für die Geisteswissenschaften ihre heutigen methodischen Grundlagen. Gadamer war stark von der Phänomenologie Husserls und der Existenzphilosophie Heideggers beeinflusst worden. Wie beim letzteren wird sein Werk von einer starken Technologieskepsis bestimmt.