12.1 Setzungen, Gedanken
- Wissenschaften, wissenschaftliche Paradigma sind gekennzeichnet von den Normensystemen gesellschaftlicher Gegebenheiten. Sie beanspruchen zwar für sich, über ihre „Erkenntnisse“ die „Wahrheit“ zu beschreiben, sie liefern aber nicht deren Spiegelbild sondern allein das einer bestimmten Gesellschaft. Sie repräsentieren eine bestimmte Form von Ideologie. Früher gliederten sie sich einem geordneten Prinzip unter, in der Regel Normen einer Religion, heute sind sie wertmäßig niemandem mehr verpflichtet und besitzen damit keine Orientierung, es sei denn, die Interessen ihrer Geldgeber.
Die Wissenschaften entschleiern die Natur in der Reihenfolge der von ihr selbst aufgestellten Gesetzmäßigkeiten. Ihre Grenzen, ihre Fehler bestehen darin, dass sie glauben, diese Gesetzmäßigkeiten seien die universalen Orientierungsvorgaben für das Dasein des Menschen und nicht nur Entwürfe für dessen Bewusstsein von der Welt, nicht nur Gebäude eines Glaubens mit den ihnen gemäßen Göttern, sei es als anschauliches Vaterbild oder als mathematische Formel.
- Die „Wahrheit“ der Wissenschaft beruht auf einem System selbst geschaffener Überprüfbarkeit. Ihre sozialen Vorgaben sind bereits in ihren Denkvorgaben, Hypothesen und Methoden enthalten. Wissenschaftliches Arbeiten bedeutet nichts anderes, als Informationen zu suchen und diese in eine Struktur einzuordnen. Dabei ist es gleichgültig, wie diese Strukturen aussehen und ihre Inhalte akzentuiert sind. D.h., dass mit Hilfe der Wissenschaften unter Anwendung bestimmter Vorgaben alles beweisbar ist. Die jeweiligen Ausschlüsse von Daten erfolgen weitgehend aufgrund eines fehlenden Konsensansatzes (fehlenden Integrationsmöglichkeiten), einer fehlenden Opportunität aus der Sicht einer Interessengruppe (besonders in den Sozialwissenschaften), aufgrund von „wissenschaftlichen“ Tabus und ihrer fehlenden technischen Effektivität.
- Eine Wissenschaft ist das Ergebnis sozialer Konsequenzen, ein Gegenüber von Mensch und Natur, der institutionalisierte Ausdruck eines zwischen ihnen geschaffenen geistigen Beziehungsrasters. Sie repräsentiert einen Theoriekonsens und umreißt einen formalen Zugang zur „Welt“. Als gesellschaftlicher Prozess ist sie Arbeit. Eine Wissenschaft stellt die Setzung eines Willens zur Erreichung eines Zweckes dar. (Der Hintergrund dieses Zweckes ist oft die Angst. Sie ist bewusstseinsmässig oft eine Art sozial gepflegten Selbstbetruges. Ihr Wert liegt einmal in der individuellen und sozialen Orientierungshilfe und andererseits in ihrer Möglichkeit im Rahmen des menschlichen Sinnesbezuges sozial die Natur auszubeuten).
Ein Merkmal von Wissenschaftlichkeit ist das Suchen von Strukturelementen mit dem Ziel einer größtmöglichen Dichte und Belastbarkeit der Verbindungen. Offene Ansätze, Schwachpunkte oder zukünftige Belastungspunkte stellen dabei eine besondere Reizsituation für den „Forschenden“ dar. Das dabei geschaffene Netz bildet Teile unserer Kultur, prägt uns geistig und verbindet uns untereinander.
Wissenschaftliche Ziele sind immer die Ziele oder Fragestellungen einer bestimmten Gesellschaft. Sie repräsentieren die Gesamtheit deren rationalen Überlegungen und zielen darauf, den Menschen mit Hilfe der Technik zu entlasten, d.h. langfristig überflüssig zu machen.
- Die empirischen Wissenschaften arbeiten nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“. Ihre Ergebnisse sind „überprüfbar“ und damit konsensfähig. Ihr Erfolg ist der Tatsache zuzuschreiben, dass ihre Ergebnisse unser aller Leben existentiell „erleichtert“, „angenehmer“ gestaltet haben und inzwischen abhängig gemacht hat. Von ihrer Ausgangsbasis her sind sie nicht wertfrei, sondern werden in ihren Wertvorgaben nicht mehr hinterfragt. Die Welt wird als eine Summe ausgewählter, isolierter Kausalfolgen gesehen. Im Rahmen dieser Isolierung geht der ganzheitliche Seinsbezug verloren.
Die Macht der Naturwissenschaften hat ihre Ursache im vordergründigen Erfolg mathematischer Strukturanwendungen bei der Ausbeutung der Natur. Sie machen die Welt „messbar“, den Einsatz technischer Kräfte kalkulierbar. Sie können aber nicht die „Sinnfrage“ der Menschen lösen und damit die Richtung der Orientierung in die Zukunft beantworten. Sie muss ihnen vorgegeben werden.
- Unsere naturwissenschaftlichen Gesetze sind Zweckinterpretationen zur besseren „Beherrschung“ der Natur. Da der Mensch diese weitgehend nur kausal begreift, in ihren komplizierten Vielfalt nur linear eingreift, zerstört er das in ihr angelegte Gleichgewicht der Kräfte.
Die Naturwissenschaften emanzipierten sich zum gesellschaftsbeherrschenden Element als sie sich von den Geisteswissenschaften befreiten. Bei dieser Befreiung blieben sie aber in der Vergangenheit verankert, da sie ihre Strukturansätze selber nicht hinterfragten. Durch diesen Umstand entmündigten sie sich gleichzeitig selber. Unter der Prämisse einer Wertfreiheit traten sie an, die Natur nach dem Postulat, „Macht euch die Erde untertan“, zu zerstören. Ein Weltbild, an das wir heute nicht mehr glauben, das aber über die Naturwissenschaften immer noch unser Handeln bestimmt.
Über seine Naturbeherrschung übernimmt der Mensch zwangsweise fundamentale ethische Verpflichtungen. Den Naturwissenschaften steht z.Z. keine moralische Institution gegenüber, die ihr ihre Grenzen nennen und sie durchzusetzen vermag. In ihrer „Maßlosigkeit“ sind sie, ist der Mensch ein Fremdkörper in der Natur geworden. Er darf nicht mehr alles machen, was er kann, d.h., er müsste sich in einer Gesellschaft einschränken, die als höchstes Postulat seine Freiheit, seine individuelle Selbstverwirklichung, den persönlichen Vorteil (als synonymer Ausdruck für „Leistung“) hat.
- Die Einheit der Wissenschaft ergibt sich aus dem sozialen Zwang zur relativen Einheit unserer Kultur. Auflösungserscheinungen wie in unserer Zeit müssen als Übergangserscheinungen angesehen werden. Diese Einheit wird zunächst über eine gemeinsame „Sprache“ geschaffen. Je spezialisierter diese ist, um so isolierter ist sie und bewegt sich als ein in sich selbst wucherndes Abstraktionsgebäude ohne eine, von ihren Inhalten her erforderliche, soziale Kontrolle.
- Wissenschaft ist Information und Technik, d.h. strukturierende Abstraktion. Dabei ist die Technik von ihrer Nutzanwendung für den Menschen her gesehen (in ihrer überwiegend konstruktiven Bedeutung) und die Information in ihrer überwiegend sozial orientierten Bedeutung. Verbunden werden sie durch die gespeicherte, geistige Arbeitsleistung in ihrer Geschichtlichkeit, d.h. als Sprache, als Kultur.
Die Einbringung des Menschen zum Reflektionsinhalt seiner eigenen Überlegungen führt nicht zu seiner Emanzipation, sondern einer stärkeren Einbindung. Die dadurch erfolgende Zerstörung seiner überalterten, religiösen Bindungssysteme, die als Freiheit empfunden wird, als Basis zukünftiger Emanzipation, erweist sich als nichts anderes, als die Voraussetzung einer viel ausgeklügelten Einbindung, einer nicht mehr hinterfragbaren Einbindung in eine wissenschaftlich-technische Welt.
Die Wissenschaft beschreibt ein Weltverständnis aus der Perspektive des menschlichen Strukturdenkens. Ihre Grenzen liegen in der Begrenztheit ihrer vorgegebenen Strukturen. Die Stellung der heutigen Philosophie hat ihre Ursachen in dem Umstand, dass sie zur Zeit den Konsens über unser mathematisch-naturwissenschaftliches Strukturdenken nicht zu durchbrechen, infrage zustellen vermag und weitgehend sich in einer interpretierenden, bürgerlich-schöngeistigen Philosophiegeschichte verliert.
- Wissenschaft vollzieht sich rational im Ausbau und in der Neugestaltung von Strukturen, irrational in der Festigung, Schaffung und Sicherung sozialer Macht, über den Ausbau alter, die Setzung neuer Strukturen, in die die alten teilweise integriert werden (z.B. durch die Ausnutzung mangelnder sozialer Bindungen der Strukturschaffenden).
Wissenschaft ist immer ein Ergebnis von Herrschaft, das Ergebnis eines sozialen Konsenses. Das Postulat von ihrer Objektivität besitzt nur die Funktion, ihren Einfluss ideologisch abzusichern. Sie entzieht sich dadurch einer Hinterfragung innerhalb des bestehenden Konsenses. Ihre soziale Macht wird durch den Glauben an sie unantastbar. Zu einem sich selbst verwaltenden Mammutbetrieb angewachsen, schafft sie jedem, der sie bezahlt, die von ihm benötigten Aussagen (z.B. die deutschen Wissenschaftler vor 1945 die „Beweise“ für die besondere Qualität des „arischen Menschen“).